Wahlverwandt
Oftmals hat sie uns sinnreiche Geschichten aus ihrem langen Leben erzählt. Unsere Besuche bei ihr gehörten zu unseren wiederkehrenden Bedürfnissen. Lisa ist über die Jahre hinweg zu unserer vertrauten Wahlverwandten geworden.
An einem sonnigen Junitag des vorigen Jahres feierten wir gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Sie hat diese Stunden sichtlich genossen, und wir waren mit ebensolcher Stimmung ganz bei ihr. Nun ist ihr Leben zu Ende gegangen. Friedlich sei sie eingeschlafen, so erzählt uns ihre Nichte, die ihr stets fürsorglich zur Seite stand. Wir haben uns gemeinsam mit den Familienangehörigen von ihr verabschiedet, mit dem würdigen Kirchgang und der nachfolgenden Feier in der gepflegten Dorfgaststätte „Zu den Drei Linden“, die dazu angetan war, ihr nochmals in nachdenklicher Ruhe und in Gesprächen zu gedenken.
Wohl Mancher resümierte in diesen Augenblicken mit den Gedanken an die Verstorbene, dass das eigene Leben nicht unendlich ist. Lisa hat ein maßvolles Leben geführt, und von dieser Lebensart hat ihre Gesundheit bis ins hohe Alter profitiert, bis sich dennoch unumgängliche Beschwerden einstellten. Die hat sie in aller Offenheit und Kürze geschildert, ohne dass sie daraus eine klagende Litanei werden ließ. Stets ist sie zurückgekehrt zu ihrer beschwichtigenden Antwort: „Ich weiß ja, wie alt ich bin!“
Mit diesem Selbstverständnis schaffte sie sich ihre Lebensübersicht und Lebensgestaltung. Immer hat sie dabei demütige Dankbarkeit geäußert, die insbesondere ihren nahen Verwandten galt. Die Familie war ihre große Stütze, auch im Ertragen der unerfreulichen Weltgeschehnisse. Oft hat sie das Handeln menschlicher Unvernunft nicht mehr verstanden, doch sie hat sich bis zuletzt mit bewundernswürdigem Orientierungsvermögen darin zurechtgefunden.