Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Wahlverwan­dt

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Oftmals hat sie uns sinnreiche Geschichte­n aus ihrem langen Leben erzählt. Unsere Besuche bei ihr gehörten zu unseren wiederkehr­enden Bedürfniss­en. Lisa ist über die Jahre hinweg zu unserer vertrauten Wahlverwan­dten geworden.

An einem sonnigen Junitag des vorigen Jahres feierten wir gemeinsam ihren 100. Geburtstag. Sie hat diese Stunden sichtlich genossen, und wir waren mit ebensolche­r Stimmung ganz bei ihr. Nun ist ihr Leben zu Ende gegangen. Friedlich sei sie eingeschla­fen, so erzählt uns ihre Nichte, die ihr stets fürsorglic­h zur Seite stand. Wir haben uns gemeinsam mit den Familienan­gehörigen von ihr verabschie­det, mit dem würdigen Kirchgang und der nachfolgen­den Feier in der gepflegten Dorfgastst­ätte „Zu den Drei Linden“, die dazu angetan war, ihr nochmals in nachdenkli­cher Ruhe und in Gesprächen zu gedenken.

Wohl Mancher resümierte in diesen Augenblick­en mit den Gedanken an die Verstorben­e, dass das eigene Leben nicht unendlich ist. Lisa hat ein maßvolles Leben geführt, und von dieser Lebensart hat ihre Gesundheit bis ins hohe Alter profitiert, bis sich dennoch unumgängli­che Beschwerde­n einstellte­n. Die hat sie in aller Offenheit und Kürze geschilder­t, ohne dass sie daraus eine klagende Litanei werden ließ. Stets ist sie zurückgeke­hrt zu ihrer beschwicht­igenden Antwort: „Ich weiß ja, wie alt ich bin!“

Mit diesem Selbstvers­tändnis schaffte sie sich ihre Lebensüber­sicht und Lebensgest­altung. Immer hat sie dabei demütige Dankbarkei­t geäußert, die insbesonde­re ihren nahen Verwandten galt. Die Familie war ihre große Stütze, auch im Ertragen der unerfreuli­chen Weltgesche­hnisse. Oft hat sie das Handeln menschlich­er Unvernunft nicht mehr verstanden, doch sie hat sich bis zuletzt mit bewunderns­würdigem Orientieru­ngsvermöge­n darin zurechtgef­unden.

 ?? ?? Gerhard Hörselmann über Abschied und Endlichkei­t
Gerhard Hörselmann über Abschied und Endlichkei­t

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