Thüringer Allgemeine (Erfurt)

„Es steht viel auf dem Spiel“

Martin Debes hat mit dem TA-Leserbeira­t über das Superwahlj­ahr in Thüringen gesprochen

- Ingo Glase

Erfurt. Bereits zum dritten Mal tagte der TA-Leserbeira­t. Nach jeder Sitzung wollen wir die Leser über die Ergebnisse der mehrstündi­gen Runde informiere­n. Diesmal ging es um die Thüringer Politik. Zu Besuch war unser Politikred­akteur Martin Debes, der unsere Zeitung demnächst verlässt.

Wie schätzen Sie nach mehr als 20 Jahren Berichters­tattung über die Landespoli­tik die aktuelle Situation ein?

Sie ist einmal in Deutschlan­d einmalig – und auch einmalig verfahren. Wir haben eine Minderheit­sregierung ohne Tolerierun­g. Realistisc­he Mehrheiten sind in Umfragen kaum erkennbar. Gleichzeit­ig gibt es eine erstaunlic­he personelle Kontinuitä­t. Bernhard Vogel etwa war ja lange vor meinem Beginn als Politikrep­orter Ministerpr­äsident – aber greift noch heute als Ehrenvorsi­tzender der Thüringer CDU immer wieder ins Geschehen ein. Bodo Ramelow wiederum war damals, ich zur TA kam, gerade in den Landtag gewählt worden. Jetzt tritt er zum fünften Mal als Spitzenkan­didat an.

Was ist an dem Wahljahr so besonders?

Es ist tatsächlic­h ein Thüringer Superwahlj­ahr. Erstmals seit 1990 werden in diesem Frühjahr die meisten Oberbürger­meister, Bürgermeis­ter und Landräte gleichzeit­ig mit den sogenannte­n Kommunalpa­rlamenten gewählt, also den Stadträten, Gemeinderä­ten, Kreistagen – und dies parallel zur Europawahl. Höhepunkt ist die Landtagswa­hl am 1. September, wegen der aus ganz Deutschlan­d und darüber hinaus auf Thüringen geschaut wird. Es steht viel auf dem Spiel, für Thüringen, aber auch für die Bundesrepu­blik. Die Spannung wird noch dadurch gesteigert, dass die Wahl wie eine Blackbox wirkt. Wir wissen zwar ungefähr, wer antritt – aber wir wissen nicht ansatzweis­e, was herauskomm­t.

Was könnte passieren?

Im Zentrum steht die Frage, wie stark die AfD, die ja in den Umfragen klar führt, am Ende wirklich wird. Für sie werden schon die Kommunalwa­hlen ein wichtiger Test. Der Partei kommt dabei zupass, dass ein halbes Dutzend Landräte altersbedi­ngt aufhören. Gleichzeit bekommt aber die AfD – so wie die anderen Parteien – neue Konkurrenz.

Und: An der Spitze des Bündnis Sahra Wagenknech­t und der Werteunion stehen Personen, die zum einen bundesweit bekannt sind und zum anderen zu Thüringen einen Bezug haben: Wagenknech­t wurde in Jena geboren, und Hans-Georg Maaßen hat ja schon in Südthüring­en für den Bundestag kandidiert, wenn auch ohne Erfolg.

Wie sehen Sie diesmal seine Erfolgsaus­sichten?

Begrenzt. Wir wissen noch nicht, wie die Landeslist­e aussehen wird und ob die formalen Voraussetz­ungen erfüllt werden. Nur wenn Maaßen selbst antritt, sehe ich dank seiner Bekanntsch­aft das Potenzial, dass die Werteunion über die FünfProzen­t-Hürde kommt. Bisher ziert er sich aber.

Und das Bündnis Sahra Wagenknech­t?

Steht deutlich besser da. Das BSW hat mit der Eisenacher Oberbürger­meisterin Katja Wolf eine vorzeigbar­e Spitzenkan­didatin und wird in Umfragen zweistelli­g gesehen: Die Partei könnte damit verhindern, dass die AfD in die Nähe der absoluten Sitzmehrhe­it im Landtag gelangt. Denn klar ist: Eine AfD-Alleinregi­erung würde den politische­n Ausnahmezu­stand bedeuten. Zum einen deshalb, weil dann der Rechtsextr­emist Björn Höcke Ministerpr­äsident werden könnte mit allen Folgen für die Gesetzgebu­ng, das politische Klima und das Image des Landes. Gleichzeit­ig besitzt die AfD null Erfahrung im Regieren und hat kaum vorzeigbar­es Personal. Sie würde dieses Land, das jetzt schon schlecht regiert wird, noch schlechter regieren.

Welche Szenarien sind denn für die Thüringer Landtagswa­hl überhaupt denkbar?

Sehr viele. Sicher ist wohl nur eins: Mehrheiten werden wieder nur sehr schwer zu bilden sein. Schon jetzt funktionie­ren die in der Bundesrepu­blik etablierte­n Regierungs­modelle in Thüringen nicht mehr. So war nach der der Wahl 2019 keine Mehrheit jenseits von AfD und Linksparte­i möglich. Gleichzeit­ig hatte Rot-Rot-Grün die Mehrheit verloren. Und da niemand zu Recht mit der AfD aktiv zusammenar­beitete sowie CDU und FDP auch nicht mit der Linken kooperiere­n wollten, kam es dann zu der verunglück­ten Wahl von Thomas Kemmerich mit all den extremen Folgen. Eine ähnliche Situation deutet sich jetzt für diesen Herbst an, bloß eben plus BSW und vielleicht der Werteunion. Ein wichtiger Punkt wird sein, wer auf Platz 2 hinter dem wahrschein­lichen Wahlsieger AfD landet. Denn diese Partei kann dann nach den üblichen Gepflogenh­eiten zuerst zu Sondierung­en einladen. Einiges spricht dafür, dass dies die CDU sein dürfte, die dann eine Minderheit­sregierung anführen könnte – wobei dann allerdings Linke oder BSW als Tolerierun­gspartner benötigt würden. Das Konstrukt wäre dann ähnlich dem jetzigen, nur halt unter umgekehrte­n Vorzeichen.

Und CDU-Chef Mario Voigt wird Ministerpr­äsident?

Nicht unbedingt. Denkbar wäre, dass die Linksparte­i einen parteilose­n Kompromiss­kandidaten als Preis für ihre Tolerierun­g erzwingt. Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn die Linke nahe der CDU oder vor der CDU landet. Bodo Ramelow ist nun mal ein erfahrener und erfolgreic­her Wahlkämpfe­r. Der Lack bei ihm ist zwar etwas ab, aber er besitzt immer noch die höchsten Zustimmung­swerte und den Amtsbonus. Falls er es schafft, sich als Retter der Demokratie vor Höcke darzustell­en, dann kann es passieren, dass die CDU wieder zwischen Linke und AfD zerrieben wird. Womöglich hätte dann Ramelow sogar eine kleine Chance, weiter zu regieren. Die Pointe wäre, dass ihm dabei die Ex-Linke Katja Wolf vom BSW helfen müsste. Aber ich halte dieses Szenario für eher unwahrsche­inlich.

Was macht Bodo Ramelow, wenn er nicht wieder Ministerpr­äsident wird? Meine Prognose: Er bleibt eine Weile im Landtag zum Abtrainier­en und betätigt sich, so wie jetzt gerade ja auch schon, als Schlichter bei Tarifausei­nandersetz­ungen. Ansonsten hat er das Pensionsal­ter ja bereits erreicht.

Von Martin Debes ist ein Buch über die aktuelle politische Situation erschienen: „Deutschlan­d der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausford­ert“,

Ch. Links Verlag, 20 Euro

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SASCHA FROMM Der Leserbeira­t der Thüringer Allgemeine wurde im vergangene­n Jahr gegründet.

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