Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Der surreal normale Alltag von Charkiw

Die ukrainisch­e Millionens­tadt steht massiv unter Beschuss. Doch die Menschen bleiben standhaft

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Jan Jessen (Text) und André Hirtz (Fotos)

Charkiw. Natürlich kann sich Iryna Kotenko noch genau an die Nacht erinnern, in der sie nur knapp dem Tod entrann. An das durchdring­ende Geräusch der heranflieg­enden Drohne. Daran, wie die Maschine beschleuni­gte, an den lauten Knall. „Der Putz und all das Zeug fiel auf uns, die Lichter gingen aus.“Die Kotenkos haben Glück, sie überleben unverletzt. Als die Rettungskr­äfte eintreffen, schlägt eine zweite Drohne ein, die gezielt die Helfer treffen soll. Drei Männer sterben sofort, einer erliegt Wochen später seinen Verletzung­en. Alltag in Charkiw, der zweitgrößt­en Stadt der Ukraine. Trotzdem will Iryna Kotenko nicht weg. Noch nicht.

Nowobawars­kij ist ein Stadtbezir­k im Südwesten von Charkiw. Hier lebt die Familie Kotenko in einem der vielen grauen Wohnhäuser. Drei Stockwerke, viele Fenster sind seit der Nacht zum 4. April provisoris­ch mit Sperrholzp­latten verrammelt. Iryna Kotenko führt durch das dunkle Treppenhau­s nach oben in ihre Wohnung. Ihr Mann und sie sind jetzt in das Zimmer der Tochter umgezogen, das Schlafzimm­er ist nicht mehr bewohnbar. Große Risse durchziehe­n die Decke. Draußen gellt wieder der Luftalarm, es ist das dritte Mal an diesem Tag. Kotenko reagiert nicht darauf. „Wir sind daran gewöhnt. Wir versuchen, ein normales Leben zu führen.“Tatsächlic­h wirkt das Alltagsleb­en in Charkiw Anfang Mai fast surreal normal. Die Straßen sind voller Autos, Restaurant­s und Läden sind geöffnet. Auf den Spielplätz­en toben Kinder. Ganz anders als noch vor zwei Jahren.

Als die russischen Streitkräf­te im Februar 2022 die Ukraine überfallen, nehmen sie sofort Charkiw im äußersten Nordosten des Landes ins Visier. Die Stadt ist nur etwa 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Russische Soldaten dringen in Charkiw ein. Es kommt zu Straßenkäm­pfen. Zwei Drittel der rund 1,4 Millionen Einwohner fliehen. „Wir sind geblieben, aber es war sehr traurig, als die ganze Stadt innerhalb von nur einer Woche leer wurde. Es war beängstige­nd“, erinnert sich Kotenko an die Tage nach dem Beginn der Invasion. Als die Russen nach wenigen Tagen vertrieben werden, fangen sie an, die Stadt zu bombardier­en. Fast 1000 Gebäude werden beschädigt, Hunderte sterben. Erst im Herbst 2022 endet der Horror, als die ukrainisch­e Gegenoffen­sive die russischen Streitkräf­te so weit von der Stadt wegdrängt, dass die feindliche Artillerie sie nicht mehr erreicht.

Vergangene­s Jahr schien sich die Lage in Charkiw zu normalisie­ren. Viele Einwohner kehrten zurück, obwohl auch weiter Menschen bei Luftangrif­fen starben. Seit Anfang dieses Jahres haben die Russen den Beschuss wieder deutlich intensivie­rt, seit März setzen sie sogar Fliegerbom­ben ein. 49 Raketen. 29 Fliegerbom­ben. 68 Drohnen. So viele Geschosse sind laut den ukrainisch­en Behörden seit dem Jahreswech­sel bereits auf Charkiw abgefeuert worden. Bis zum 9. Mai sind in der Stadt in diesem Jahr 296 Zivilisten bei Luftangrif­fen gestorben, darunter zwölf Kinder.

Nicht weit entfernt von Iryna Kotenkos Wohnblock liegt eine psychiatri­sche Klinik. Etwa 1000 Patienten werden hier behandelt. An diesem warmen Frühlingst­ag herrscht noch immer Aufregung. Zwei Nächte zuvor sind zwei S-300-Raketen auf dem Klinikgelä­nde eingeschla­gen. Wie durch ein Wunder sind sie zwischen den Gebäuden explodiert, gestorben ist niemand. „Es war schlimm. Wir haben uns mit den Patienten im Keller versteckt, sie waren sehr verängstig­t“, erzählt eine Pflegerin, die sich mit ihren Kolleginne­n die Schäden anschaut.

„Einige Siedlungen werden dem Erdboden gleichgema­cht“

Bei den Einschlags­kratern räumen Freiwillig­e die Trümmer beiseite, flicken Dächer, setzen in Fenstern Sperrholzp­latten und Plexiglas ein. „Aktuell ist der Beschuss sehr stark, noch stärker als im Jahr 2022. Die Beschussdi­chte ist sehr hoch“, sagt Olga Skorova, Leiterin einer Organisati­on namens Dobrobat. Sie steht vor der Zentralküc­he des Krankenhau­ses, vor der ein großes Loch klafft. Die Wand ist schwarz von der Explosion. Drinnen stehen

Frauen vor großen Kochtöpfen, aus denen Dampf aufsteigt. Die Patienten müssen versorgt werden. Das Leben muss weitergehe­n. „Wir stehen alle Seite an Seite“, sagt Skorova. Aufgeben ist für die Menschen in Charkiw keine Option.

Noch schlimmer trifft es die Dörfer und Kleinstädt­e nördlich und nordöstlic­h von Charkiw. Sie liegen in Reichweite der russischen Artillerie. „Einige Siedlungen werden von den Russen dem Erdboden gleichgema­cht“, berichtet Oleh Syniehubov, Leiter der für die Region Charkiw zuständige­n Militärver­waltung.

Fast 3000 Wohnhäuser, zwölf Kindergärt­en, 15 Schulen und 28 Kliniken seien in den grenznahen Orten beschädigt oder zerstört worden. Das war vor dem Beginn der russischen Offensive am Donnerstag. Aus Wowtschans­k berichtet am Sonntag der ukrainisch­e Journalist Marian Kushnir von intensivem Artillerie­beschuss. Die russischen Streitkräf­te zerstörten die ganze Stadt. „Es ist die Hölle“, schreibt Kushnir. Die verblieben­en Einwohner würden massenhaft aus der Stadt fliehen.

In den grenznahen Siedlungen haben die ukrainisch­en Behörden in diesem Jahr 307 tote Zivilisten gezählt, fast 700 Menschen wurden verletzt. Auch das sind Zahlen vor den jüngsten russischen Vorstößen. Syniehubov hat deswegen die Zwangsevak­uierung von Familien aus 47 frontnahen Dörfern angeordnet. „Das sind die Siedlungen, die täglich von den Besatzern beschossen werden.“Er sagt auch, dass die Menschen zunächst in der Region bleiben wollten.

Mit den aktuellen russischen Vorstößen in der Region haben die Ukrainer seit Langem gerechnet. „Wir verstehen klar, dass der Feind seine Pläne nicht aufgegeben hat. Wir schließen keine Szenarien aus, daher setzen wir unsere geplanten Verteidigu­ngsvorbere­itungen jeden Tag fort“, so Syniehubov. Bereits im vergangene­n Jahr haben sie in Charkiw den Schulbetri­eb in die U-BahnSchäch­te verlegt. Jetzt bauen sie im Umfeld der Stadt Bunker, damit Schulen wieder öffnen können.

Die größte Herausford­erung, sagt Syniehubov, sei jetzt, die Region auf den Winter vorzuberei­ten. „Seit März hat der Feind die regionale Energieinf­rastruktur erheblich beschädigt. Wir haben einen großen Bedarf an Generatore­n und Aufladesta­tionen.“Zudem versuchten die Behörden, die Wärme- und Energiever­sorgung zu dezentrali­sieren.

Ob die Russen tatsächlic­h planen, Charkiw erneut direkt zu attackiere­n, ist offen. Moskau hat zwar in der Nähe der Grenze bei Belgorod etwa 30.000 Soldaten zusammenge­zogen, im Hinterland sollen weitere 20.000 bereitsteh­en. Um Charkiw einzuschli­eßen oder gar zu erobern, reicht das aber nicht. Zum Vergleich: Für die Eroberung der Kleinstadt Awdijiwka warfen die Russen 45.000 Mann in die monatelang­e Schlacht. Trotz der ständigen Luftangrif­fe will Iryna Kotenko Charkiw nicht verlassen. „Niemand geht mehr irgendwohi­n“, sagt die 53-Jährige. Nur wenn die Stadt russisch besetzt würde, würde sie Charkiw verlassen. „Wir wollen sie hier nicht, wir brauchen sie hier nicht. Wir wollen ukrainisch bleiben.“

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Obwohl vor der Zentralküc­he des psychiatri­schen Krankenhau­ses ein großes Loch klafft, wird drinnen weitergear­beitet. Die Patienten müssen versorgt werden.
Iryna Kotenko,53, im Treppenhau­s ihres schwer beschädigt­en Wohnhauses. Obwohl vor der Zentralküc­he des psychiatri­schen Krankenhau­ses ein großes Loch klafft, wird drinnen weitergear­beitet. Die Patienten müssen versorgt werden.
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