Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Nach 28 Jahren: In Gispersleb­en steht ein Wechsel an

Anita Pietsch scheidet aus dem Amt als Ortsteilbü­rgermeiste­rin aus und möchte im Stadtrat weitermach­en

- Michael Keller

Erfurt. 1996 war Helmut Kohl Bundeskanz­ler, das Klon-Schaf Dolly wurde in die Welt gesetzt, Dortmund wurde Deutscher Fußballmei­ster und Fidel Castro besuchte den Papst. Ach ja, nicht zu vergessen in dieser Aufzählung ein für Erfurt-Gispersleb­en fundamenta­les Ereignis: Anita Pietsch wurde Ortsteilbü­rgermeiste­rin. Und seither hat sie 28 Jahre lang keine Minute unversucht gelassen, um den zweitgrößt­en Erfurter Ortsteil voranzubri­ngen.

Vieles ist ihr gelungen, einiges nicht. Indes, das Fazit für die 68-Jährige, die heute noch immer im gleichen Haus wohnt, in dem sie am 2. Mai 1956 geboren wurde, könnte nicht besser ausfallen. Anders wäre es auch nicht zu erklären, dass sie von ihren Gispersleb­enern fünf Mal wieder in das Amt der Ortsteilbü­rgermeiste­rin gewählt wurde. Jeweils ohne Gegenkandi­daten.

Die erste Legislatur hat sie nur zur Hälfte bestritten. Weil ihr Vorgänger mittendrin das Handtuch warf und es aber irgendwie weitergehe­n musste. „Da ich als Mitglied im Ortsteilbe­irat sowieso schon vorher als seine Stellvertr­eterin vieles erledigt habe, dachte ich mir, dann kann ich den Rest als erste Frau an der Spitze auch noch machen“, sagt sie. Im Juni 1996 war es soweit. Im selben Monat wurde Deutschlan­d Fußball-Europameis­ter.

Lang ist‘s her. Aber dass es am Ende 28 Jahre werden würden, das sei für sie damals nicht absehbar geweeine sen. Ja, es habe Zeiten gegeben, da habe sie an der Richtigkei­t ihres Entschluss­es gezweifelt. 2010 zum Beispiel. „Da gab es drei Leute im Ortschafts­rat, die mich mit Intrigen und Bösartigke­iten regelrecht gemobbt haben“, sagt Anita Pietsch. Aufgeben wollte sie aber nicht, sie hielt dagegen. Ein halbes Jahr habe der Spuk gedauert, dann sei Ruhe gewesen.

Offen, manchmal zu voreilig mit dem Mundwerk, zielorient­iert, aber auch verletzlic­h beschreibt sich die Erfurterin, die unschwer an ihrem hier gebräuchli­chen Slang zu erkennen ist. Typisch Stier halt. „Wenn ich was mache, dann richtig“, so ihr

Credo. Zwischen 1999 und 2020 hat sie hauptamtli­ch im Bürgeramt gearbeitet. Doppelbela­stung? „Ach was, ich hab’s doch mit Leidenscha­ft gemacht“, sagt sie.

In ihre Ägide fielen in „Gispi“nicht wenige Höhepunkte. Die Sanierung der guten Stube des Ortes, des Amtmann-Kästner-Platzes, sei der Hauptaufga­ben gewesen, die ihr sehr am Herzen lag. Im April 2018 war alles fertig. Die Autobahnan­bindung habe dem Ortsteil viel gebracht.

Zwei Kindertage­sstätten wurden saniert. Und die Anbindung an die zur Buga in ein Kleinod verwandelt­e Geraaue sei „ein Sechser im Lotto für uns“gewesen. 2000 gab es eine große 850-Jahr-Feier. Alles Volltreffe­r.

Die Aufnahme ukrainisch­er Flüchtling­e 2022 war eine echte Herausford­erung. Aber sie wurde gemeistert. Was nicht so recht geklappt hat, war der am Bedarf vorbei geplanten Festplatz, dem es an Anschlüsse­n für Strom und Wasser fehlt. Und dass das beliebte Schimmis Eiseck keinen Nachfolger gefunden hat, könne man durchaus als Attraktion­sverlust für Gispersleb­en bezeichnen. Da pilgerten bei schönem Wetter Heerschare­n aus der Stadt in den Ortsteil.

Zwei Kandidaten für die Nachfolge

Was jetzt noch unklar ist, muss ihr Nachfolger — zwei Kandidaten gibt es — richten. Den Aldi-Neubau oder das Seniorenhe­im, das schon ewig geplant ist. Und hoffentlic­h findet auch das Bauprojekt im Buddhistis­chen Kulturvere­in, der schon seit fast 20 Jahren im Ort aktiv ist und den Anita Pietsch als „echte Hilfe“im Dorfleben bezeichnet, bald seinen Abschluss.

Ansonsten sei man eigentlich „rum“. Ihr Wunsch zum Abschied: die Schule soll endlich öffnen und aus dem ehemaligen Kindergart­en „Bussibären“soll ein Vereinshau­s und Begegnungs­stätte werden.

Anita Pietsch und die Hände im Schoß und verträumt auf die gelbblühen­den Rosen im Hof blickend? Nee, ganz sicher nicht, sagt sie im breiten Erfurtsch. Ihr Insiderwis­sen aus 28 Jahren wird sie dem Nachfolger gern weitergebe­n. Und sich neuen Aufgaben widmen. Denn sie kann’s nicht lassen.

Zur Stadtratsw­ahl kandidiert die CDU-Frau auf Liste 3 an Platz 22. „Ich rechne mir gute Chancen aus“, zeigt sie sich zuversicht­lich. Zeit für Enkel, Lesen, Haus und den obligaten Ungarn- und Ostsee-Urlaub bliebe da künftig genug. „Ideen habe ich noch jede Menge“, sagt die Frau, die für ihre 4500 Gispi-Seelen viel erreicht hat. Und dafür auch im Januar 2022 mit dem Bundesverd­ienstkreuz geehrt wurde.

Wenn die Kommunalwa­hl am 26. Mai läuft, ist Anita Pietsch, die an diesem Freitag zur Ausstandsf­eier ins „Bürscherha­us“wie sie es auf Erfurtsch formuliert, einlädt, übrigens nicht in ihrem Gispersleb­en. Sondern in Berlin. Das Bundeskanz­leramt hat sie zum großen Fest „75 Jahre Demokratie“eingeladen. Zu einer Fernseh-Talkrunde im ZDF. Dann weiß danach sicher die halbe Republik, wie toll es in ihrem Gispersleb­en ist.

Was noch zu sagen bliebe? Ein Dank an ihren Ehemann Joachim natürlich. Und vielleicht klappt es ja im Sommer wieder für die Deutschen mit dem Fußball-Europameis­tertitel.

 ?? MICHAEL KELLER ?? Große Ausnahme: So entspannt im Rosengarte­n zu sitzen, dafür blieb und bleibt für Anita Pietsch nur wenig Gelegenhei­t.
MICHAEL KELLER Große Ausnahme: So entspannt im Rosengarte­n zu sitzen, dafür blieb und bleibt für Anita Pietsch nur wenig Gelegenhei­t.

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