Wie sich das Grundgesetz vor Feinden schützt
Die Verfassung soll verhindern, dass autoritäre Regierungen die Demokratie abschaffen – mit cleveren Werkzeugen
Berlin. Wie gefährdet ist unsere Demokratie? Zum ersten Mal in der 75-jährigen Geschichte der Bundesrepublik begleitet diese Frage die Feiern zum Jahrestag des Grundgesetzes. „Die liberale Demokratie steht unter Beschuss“, stellte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck schon vor einigen Jahren fest. Seither ist die Lage nicht besser geworden. Die Erfahrung, dass eine Demokratie unter dem Druck demokratiefeindlicher Kräfte mit ihren eigenen Mitteln abgeschafft werden kann, war das Fanal, unter dem sich 1948 die Mitglieder des Parlamentarischen Rates an die Arbeit am neuen Grundgesetz machten. Es ging ihnen darum, die Grundlage für eine robuste, eine wehrhafte Demokratie zu schaffen. Damals war die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten gerade erst drei Jahre vergangen.
So war allen klar, dass die neue Verfassung der jungen Demokratie mehr Schutz gegen ihre Feinde bieten musste als die Weimarer Verfassung, an deren Ende die Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler gestanden hatte. Dieser Gedanke, der über die Jahrzehnte ein wenig in Vergessenheit geraten war, hat in jüngster Zeit eine ganz neue Brisanz entfaltet, da die in Teilen rechtsextreme AfD immer mehr Zulauf erhalten hat. Sie könnte bei den ostdeutschen Landtagswahlen in diesem Jahr stärkste Fraktion werden. Und dann?
Goebbels über den Reichstag:
Wir kommen als Feinde
Als Joseph Goebbels 1928 in den Reichstag gewählt wurde, ließ er an den Zielen der NSDAP im Parlament gar keinen Zweifel. „Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns aus dem Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen“, schrieb er in der Nazizeitung „Völkischer Beobachter“. „Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre eigene Sache. Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir.“
Keine fünf Jahre später war das Ziel schon erreicht. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte Hitler am 30. Januar 1933 unter chaotischen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen zum Kanzler. Seine NSDAP war bei den letzten freien Wahlen 1932 mit 33Prozent stärkste Partei geworden. In der nach dem Reichstagsbrand Ende Februar ausgebrochenen, von den Nazis geschürten politischen Krise verabschiedete das Parlament das sogenannte Ermächtigungsgesetz, mit dem die gesetzgebende Gewalt an Hitlers Regierung übertragen wurde. Die Abgeordneten hoben damit die für eine demokratische Ordnung entscheidende Gewaltenteilung selbst auf.
Diesen demokratischen Kulturbruch vor Augen, setzte der Parlamentarische Rat die Zweidrittelmehrheit für jegliche Änderungen am Grundgesetz als entscheidende Sicherungsschwelle gegen Versuche, die Verfassung aus den Angeln zu heben. Mit der einfachen Mehrheit der Mandate kann eine Partei regieren. Doch für Eingriffe in das Grundgesetz ist in der Regel die Zusammenarbeit zwischen Regierungsund Oppositionsparteien erforderlich. Was im politischen Alltag manchmal als hinderlich erscheint, ist in Wahrheit also ein wesentliches Element, um die parlamentarische Demokratie stabil zu halten. „So bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit“, schreibt der Jurist Maximilian Steinbeis in seinem Verfassungsblog.
Doch der Schutz gilt vor allem für den Extremfall eines Fundamentalangriffs auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dafür hält das Grundgesetz die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 parat, die definiert, welche seiner Bestimmungen niemals aufgehoben werden können. Sie sind „ewig“, also wirksam, solange das Grundgesetz gilt. An erster Stelle steht hier der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“Damit sind beispielsweise die in rechten Kreisen angestellten Überlegungen, bestimmte in Deutschland lebende Gruppierungen zu deportieren, schlicht verfassungswidrig. Auf ewig verankert ist auch die föderale Ordnung: Aus der Bundesrepublik darf kein Zentralstaat gemacht werden.
Die entscheidende Institution, die die Einhaltung dieser Bestimmungen überwacht, ist das Bundesverfassungsgericht. Es ist ebenfalls im Grundgesetz verankert und
Konrad Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 um 17 Uhr in Bonn. könnte nicht einfach abgeschafft werden. Ein Blick auf die Entwicklungen in Ungarn und Polen, wo demokratisch gewählte, aber autoritär handelnde Regierungen tief in die demokratischen Strukturen eingegriffen haben, zeigt, dass das Grundgesetz solchen Bestrebungen relativ gut standhalten könnte. Allerdings ließen sich beispielsweise das Parteiengesetz und die Geschäftsordnung des Bundestages mit einfacher Mehrheit ändern. „Damit hätte die Parlamentsmehrheit Zugriff auf das Wahlsystem, auf die Parteienfinanzierung, auf die parlamentarischen
Rechte der Opposition und könnte diese in weitem Umfang als Hebel einsetzen, die politische Konkurrenz zu schwächen, zu zersplittern und zu neutralisieren“, warnt Steinbeis. Gleiches gilt für die Wahl der Verfassungsrichter. Eine einfache Mehrheit im Bundestag würde reichen, um die notwendige Zweidrittelmehrheit bei der Richterwahl aus dem Gesetz zu streichen. Hier zeigt sich die größte Schwäche demokratischer Systeme: Sie sind immer davon abhängig, dass sich alle Beteiligten an Spielregeln halten, die gerade nicht einklagbar sind.