Der Absturz des Mister 100 Prozent
Kanzlerkandidat Schulz fährt für die SPD eine katastrophale Niederlage ein, doch das große Scherbengericht der Parteiführung fällt erst mal aus
Berlin. Sie haben ja schon mit dem Schlimmsten gerechnet in der SPD, aber als es so weit ist, herrscht im Willy-brandt-haus doch das blanke Entsetzen. Oben im sechsten Stock der Parteizentrale sitzt Kanzlerkandidat Martin Schulz seit dem Nachmittag mit der engsten Parteiführung zusammen, die ersten – noch streng vertraulichen – Prognosen der Institute erhält die Runde bereits am frühen Nachmittag.
Stunden vor der Schließung der Wahllokale ist den Genossen das Ausmaß der Katastrophe klar, die Stimmung ist entsprechend düster: Die SPD hat mit Schulz das schlechteste Spd-ergebnis der Nachkriegszeit eingefahren, ihr Status als Volkspartei verblasst. Rund 60 der knapp 200 Bundestagsabgeordneten verlieren wohl ihre Mandate, die Partei büßt einen hohen einstelligen Millionenbetrag an Wahlkampfkostenerstattung ein. Schlimmer hätte es nicht kommen können.
Sozialdemokraten gehen in die Opposition
Unter Schock hat die Parteiführung in wenigen Stunden zentrale Fragen für die nächste Wahlperiode zu klären: Kann Schulz Parteichef bleiben? Steht die SPD in dieser heiklen Lage für eine neue große Koalition bereit? Als Schulz nur eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale unten im Saal des Willy-brandt-hauses vor die Anhänger tritt, ist schon alles beschlossen: Der Parteivorsitzende bleibt, die SPD geht in die Opposition.
Der SPD-CHEF wird trotz allem mit Beifall empfangen, er wirkt schon wieder gefasst, als er von einem „schwarzen und bitteren Tag“spricht. Die SPD werde die Koalition mit der Union beenden, kündigt Schulz unter dem Jubel der Genossen an, sie werde als stärkste Oppositionskraft dafür kämpfen, die Kanzlerin abzulösen. Und: Die SPD müsse sich grundsätzlich neu aufstellen – er halte es für seine Pflicht, diesen Prozess als Vorsitzender zu leiten.
Schulz will Parteichef bleiben, auch über den Parteitag im Dezember Thomas Oppermann, noch amtierender Spd-fraktionschef
hinaus. Hinter ihm hat sich die Führungsriege auf der Bühne versammelt. Ganz vorn steht Arbeitsministerin Andrea Nahles. Sie ist offenbar seine Kandidatin für den Fraktionsvorsitz. Amtsinhaber Thomas Oppermann ahnt, dass seine Zeit abläuft. „Wir brauchen einen programmatischen und organisatorischen Neuanfang“, schreibt Nahles am Sonntagabend auf Facebook. Schulz macht deutlich, er selbst werde den Fraktionsvorsitz nicht anstreben. Schulz und Nahles – auf dieses neue Führungsbündnis wird es hinauslaufen, heißt es in der Partei.
Da bilden sich neue Allianzen. Das große Scherbengericht bleibt auch deshalb aus für den Kanzlerkandidaten, den die Genossen erst im März euphorisch mit hundert Prozent zum Parteichef gewählt hatten. Schulz hat die Erwartungen enttäuscht, aber in der Spd-spitze überwiegt die Auffassung, Schulz seien große Vorwürfe nicht zu machen – gravierende Fehler habe er nicht begangen. Ein Neuanfang müsse nicht überstürzt werden. Schulz sei viel zu spät als Kanzlerkandidat gestartet, aber das sei nicht seine Schuld, sondern die des früheren Parteichefs Sigmar Gabriel gewesen, sagt einer aus der engsten Führung. Mit Gabriel, so heißt es, wäre die Wahl kaum besser ausgegangen.
Nicht, dass es keine Kritik gäbe am Parteichef: „Er hat Inhalte viel zu spät geliefert, das Gerechtigkeitsthema überbetont, die Erfolge der großen Koalition kleingeredet“, fasst ein Führungsmann aus der Spd-fraktion zusammen. Auf dem linken Flügel der SPD wird kritisiert, dass Schulz sich nicht ernsthaft um eine rot-rot-grüne Regierungsoption bemüht habe. Der Druck, jetzt konsequent ein Bündnis mit der Linkspartei vorzubereiten, dürfte wachsen. Für den Vorsitzenden sprechen auch taktische Erwägungen, die darauf hindeuten, dass er womöglich nur ein Vorsitzender auf Abruf ist. Ein personeller Umbruch an der Parteispitze würde die Lage der SPD vor den Landtagswahlen in Niedersachsen am 15. Oktober noch verschlechtern. Andere Strategen drängen, erst einmal die Ursachen aufzuarbeiten: „Wir haben dreimal nacheinander die Bundestagswahl verloren, zweimal haben wir eine großen Koalition als geprügelte Hunde verlassen – das muss schonungslos aufgearbeitet werden“, fordert ein Präsidiumsmitglied. Es sei „Zeit für eine gründliche politische Inventur“, meint Michael Groschek, Landesgeschäftsführer aus Nordrhein-westfalen.
Zum Parteitag im Dezember dürfte mehr Klarheit herrschen. Schulz hat jetzt immerhin auch im Bundestag eine Bühne. Dort will die SPD die Union viel stärker attackieren. Die hohen Verluste der Union gelten den Genossen als Beleg, dass die eigenen Einbußen mit der großen Koalition zu tun haben. Und der Einzug der AFD in den Bundestag erzeugt Abwehrreflexe: „Ihr seid unsere Feinde“, hat Schulz der AFD schon zugerufen. Er bleibt im Kampfmodus – und die Genossen haken sich unter.
„Wir gewinnen und wir verlieren gemeinsam.“
Zeit für eine Inventur in der SPD