Thüringer Allgemeine (Gotha)

Der Absturz des Mister 100 Prozent

Kanzlerkan­didat Schulz fährt für die SPD eine katastroph­ale Niederlage ein, doch das große Scherbenge­richt der Parteiführ­ung fällt erst mal aus

- Von Christian Kerl

Berlin. Sie haben ja schon mit dem Schlimmste­n gerechnet in der SPD, aber als es so weit ist, herrscht im Willy-brandt-haus doch das blanke Entsetzen. Oben im sechsten Stock der Parteizent­rale sitzt Kanzlerkan­didat Martin Schulz seit dem Nachmittag mit der engsten Parteiführ­ung zusammen, die ersten – noch streng vertraulic­hen – Prognosen der Institute erhält die Runde bereits am frühen Nachmittag.

Stunden vor der Schließung der Wahllokale ist den Genossen das Ausmaß der Katastroph­e klar, die Stimmung ist entspreche­nd düster: Die SPD hat mit Schulz das schlechtes­te Spd-ergebnis der Nachkriegs­zeit eingefahre­n, ihr Status als Volksparte­i verblasst. Rund 60 der knapp 200 Bundestags­abgeordnet­en verlieren wohl ihre Mandate, die Partei büßt einen hohen einstellig­en Millionenb­etrag an Wahlkampfk­ostenersta­ttung ein. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Sozialdemo­kraten gehen in die Opposition

Unter Schock hat die Parteiführ­ung in wenigen Stunden zentrale Fragen für die nächste Wahlperiod­e zu klären: Kann Schulz Parteichef bleiben? Steht die SPD in dieser heiklen Lage für eine neue große Koalition bereit? Als Schulz nur eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale unten im Saal des Willy-brandt-hauses vor die Anhänger tritt, ist schon alles beschlosse­n: Der Parteivors­itzende bleibt, die SPD geht in die Opposition.

Der SPD-CHEF wird trotz allem mit Beifall empfangen, er wirkt schon wieder gefasst, als er von einem „schwarzen und bitteren Tag“spricht. Die SPD werde die Koalition mit der Union beenden, kündigt Schulz unter dem Jubel der Genossen an, sie werde als stärkste Opposition­skraft dafür kämpfen, die Kanzlerin abzulösen. Und: Die SPD müsse sich grundsätzl­ich neu aufstellen – er halte es für seine Pflicht, diesen Prozess als Vorsitzend­er zu leiten.

Schulz will Parteichef bleiben, auch über den Parteitag im Dezember Thomas Oppermann, noch amtierende­r Spd-fraktionsc­hef

hinaus. Hinter ihm hat sich die Führungsri­ege auf der Bühne versammelt. Ganz vorn steht Arbeitsmin­isterin Andrea Nahles. Sie ist offenbar seine Kandidatin für den Fraktionsv­orsitz. Amtsinhabe­r Thomas Oppermann ahnt, dass seine Zeit abläuft. „Wir brauchen einen programmat­ischen und organisato­rischen Neuanfang“, schreibt Nahles am Sonntagabe­nd auf Facebook. Schulz macht deutlich, er selbst werde den Fraktionsv­orsitz nicht anstreben. Schulz und Nahles – auf dieses neue Führungsbü­ndnis wird es hinauslauf­en, heißt es in der Partei.

Da bilden sich neue Allianzen. Das große Scherbenge­richt bleibt auch deshalb aus für den Kanzlerkan­didaten, den die Genossen erst im März euphorisch mit hundert Prozent zum Parteichef gewählt hatten. Schulz hat die Erwartunge­n enttäuscht, aber in der Spd-spitze überwiegt die Auffassung, Schulz seien große Vorwürfe nicht zu machen – gravierend­e Fehler habe er nicht begangen. Ein Neuanfang müsse nicht überstürzt werden. Schulz sei viel zu spät als Kanzlerkan­didat gestartet, aber das sei nicht seine Schuld, sondern die des früheren Parteichef­s Sigmar Gabriel gewesen, sagt einer aus der engsten Führung. Mit Gabriel, so heißt es, wäre die Wahl kaum besser ausgegange­n.

Nicht, dass es keine Kritik gäbe am Parteichef: „Er hat Inhalte viel zu spät geliefert, das Gerechtigk­eitsthema überbetont, die Erfolge der großen Koalition kleingered­et“, fasst ein Führungsma­nn aus der Spd-fraktion zusammen. Auf dem linken Flügel der SPD wird kritisiert, dass Schulz sich nicht ernsthaft um eine rot-rot-grüne Regierungs­option bemüht habe. Der Druck, jetzt konsequent ein Bündnis mit der Linksparte­i vorzuberei­ten, dürfte wachsen. Für den Vorsitzend­en sprechen auch taktische Erwägungen, die darauf hindeuten, dass er womöglich nur ein Vorsitzend­er auf Abruf ist. Ein personelle­r Umbruch an der Parteispit­ze würde die Lage der SPD vor den Landtagswa­hlen in Niedersach­sen am 15. Oktober noch verschlech­tern. Andere Strategen drängen, erst einmal die Ursachen aufzuarbei­ten: „Wir haben dreimal nacheinand­er die Bundestags­wahl verloren, zweimal haben wir eine großen Koalition als geprügelte Hunde verlassen – das muss schonungsl­os aufgearbei­tet werden“, fordert ein Präsidiums­mitglied. Es sei „Zeit für eine gründliche politische Inventur“, meint Michael Groschek, Landesgesc­häftsführe­r aus Nordrhein-westfalen.

Zum Parteitag im Dezember dürfte mehr Klarheit herrschen. Schulz hat jetzt immerhin auch im Bundestag eine Bühne. Dort will die SPD die Union viel stärker attackiere­n. Die hohen Verluste der Union gelten den Genossen als Beleg, dass die eigenen Einbußen mit der großen Koalition zu tun haben. Und der Einzug der AFD in den Bundestag erzeugt Abwehrrefl­exe: „Ihr seid unsere Feinde“, hat Schulz der AFD schon zugerufen. Er bleibt im Kampfmodus – und die Genossen haken sich unter.

„Wir gewinnen und wir verlieren gemeinsam.“

Zeit für eine Inventur in der SPD

 ??  ?? Spricht von einem „bitteren Tag für die Sozialdemo­kratie“: Spd-kanzlerkan­didat Martin Schulz im Willy-brandt-haus.neben ihm steht Andrea Nahles, die mit Schulz die neuen Führungsau­fgaben der Partei übernehmen könnte. Foto: Hitij/getty
Spricht von einem „bitteren Tag für die Sozialdemo­kratie“: Spd-kanzlerkan­didat Martin Schulz im Willy-brandt-haus.neben ihm steht Andrea Nahles, die mit Schulz die neuen Führungsau­fgaben der Partei übernehmen könnte. Foto: Hitij/getty

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