Trauer bei der SPD, jubelnde Afdler und Liberale
Wie die Spitzen der Landesparteien von Thüringen aus die Hochrechnungen verfolgten. Für einige wurde es ein bitterer Abend
Erfurt. Mindestens drei Abgeordnete im Bundestag. Oder vier? Oder gar fünf?
Es ist eine Luxusfrage, die sich der thüringischen AFD am gestrigen Abend in Erfurt stellt, als der blaue Balken auf der große Leinwand emporklettert. Die prognostizierten rund 13 Prozent im Bund, das wisse alle im Raum, bedeuten erfahrungsgemäß mindestens 20 Prozent in Thüringen – oder mehr.
Stephan Brandner, Jürgen Pohl und Marcus Bühl sitzen damit garantiert im nationalen Parlament. Sie feiern sich entsprechend ausgiebig in der Kleinkunstbühne in der Erfurter Innenstadt, die von der AFD angemietet wurde.
Um die 150 Leute sind da, das Licht schummert rot und parteiblau. Vom Band tönt französischsprachige Musik, an weißgedeckten Tischen sitzen oder stehen die mehrheitlich festlich gekleideten Parteianhänger herum, derweil auf der Bühne das sonst so gerne gescholtene ZDF übertragen wird. Die selbst ernannte Alternative wirkt fast schon etabliert.
Auch Afd-landeschef Björn Höcke darf sich als Sieger fühlen. Er wird zwar weiter im Landtag die übersichtliche Oppositionsfraktion leiten, weil er auf eine Kandidatur für den Bundestag verzichtet hatte.
Das heißt aber nicht, dass er in der Bundespolitik an der Seite stehen will. Die Wähler, teilte er mit, hätten seiner Partei den Auftrag gegeben, Deutschland „politisch, kulturell und sittlich zu erneuern“, teilt er mit.
Eine Erneuerung gibt es wohl auch für die SPD, aber anders, als sich die Partei das vorgestellt hatte. In der Landesgeschäftsstelle am Erfurter Gagarin-ring schaut der Spd-spitzenkandidat Carsten Schneider mit versteinertem Blick auf die Balkendiagramme.
„Wir werden in die Opposition gehen“, sagt der Mann, der bislang Vize der Bundestagsfraktion ist. Die Schuld am Erstarken der AFD sieht er bei der Kanzlerin und ihrem Flüchtlingskurs.
Das Landesergebnis liegt, nachdem am Abend der größte Teil der Thüringer Wahllokale ausgezählt ist, bei knapp über 13 Prozent. Damit werden Carsten Schneider, Elisabeth Kaiser und der frühere Landeschef Christoph Matschie die drei Thüringer Sozialdemokraten in Berlin sein.
„Das ist das Vermächtnis von Angela Merkel“, sagt Wirtschaftsminister Georg Maier. Die SPD habe ein Glaubwürdigkeitsproblem, sagte die ehemalige Juso-vorsitzende Saskia Scheler.
Auch in der Cdu-geschäftsstelle im Erfurt Süden ist die Stimmung nur mittelmäßig. Nach dem schlechtesten Bundesergebnis der Bundespartei seit 1949 wirkt Generalsekretär Raymond Walk ein wenig verloren. Viel los ist hier nicht.
Immerhin bleibt die Union weiter mit Abstand die stärkste Kraft im Land. Aber an zweiter Stelle landet die AFD.
Walk sieht müde aus. „Das kann nicht unser Anspruch sein“, sagt er. Auch Cdu-landeschef Mike Mohring ist ernüchtert. Seine Partei habe den Regierungsauftrag erhalten, sagt er. „Doch das Ergebnis ist kein Grund zum Jubeln.“Das Parteiensystem habe sich geändert, und es gebe einen völlig veränderten Bundestag. Gefragt sei jetzt eine offensive Auseinandersetzung mit denen, die das Land nach rechten und linken Ideologien umbauen wollen.
Für ein wenig Erleichterung sorgt immerhin, dass die dunkelrote Säule klein bleibt – auch in Thüringen. Dies sei „eine ordentliche Klatsche“für den linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, sagt ein Junge-unionmitglied.
Tatsächlich klingen bei den Linken im Erfurter Café Nerly die Freudenrufe eher gedämpft, als um 18 Uhr die Wahlprognose neun Prozent für die Partei ausweist. Der hohe Balken für die AFD wird mehrfach mit dem Sch... -Wort kommentiert.
Doch Spitzenkandidatin Martina Renner stellt sich vor den großen Tv-bildschirm und sagt: „Wir atmen auf.“Die Linke habe sich als stabiler Faktor im linksgrünen Spektrum erwiesen. Es sei richtig gewesen, im Wahlkampf soziale Themen wie Rente, Kinderarmut und einen höheren Mindestlohn herauszustellen. Auch die konsequente Friedenspolitik der Linken werde von den Wählern honoriert.
Dagegen, ruft Renner, sei das „verheerende Ergebnis der SPD“sicher auch die Quittung dafür, dass die Sozialdemokraten sich nicht für einen deutlichen Politikwechsel entschieden hätten.
Ganz ähnlich wie bei den Linken ist die Stimmung etwa einen Kilometer weiter südlich, bei den Grünen. Als die erste Prognose über den Großbildschirm flackert, hebt die versammelte grüne Landesspitze wie beim Spiel „Alles, was Flügel hat“gemeinschaftlich die Arme in die Luft. Dann klatscht sie sich selbst zu.
Neun Prozent sind erreicht – das ist weniger, als man sich einst vornahm. Aber es ist mehr, als zuletzt in den Umfragen vorhergesagt wurde. „Super!“, ruft Justizminister Dieter Launiger, der vor vier Jahren vergeblich für den Bundestag kandidierte.
Um die 70 bis 80 Grüne haben sich in dem Café versammelt, das die Landespartei angemietet hat. Es sind immerhin zehn Prozent der überschaubaren Mitgliedschaft im Land.
Jetzt also auf nach Jamaika? Die grüne Landeschefin Stephanie Erben will sich nicht zu einer schwarz-gelb-grünen Koalition äußern, die als einzige Bündnisoption in Berlin übrig bleiben dürfte. „Das wird nicht in Erfurt entschieden“, sagt sie.
Ganz richtig ist das nicht: Die Spitzenkandidatin und Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-eckardt kommt aus Thüringen. Sie wird sich nun mit der CDU, aber vor allem mit CSU und FDP auseinanderzusetzen haben – vielleicht sogar als Ministerin. Das maue grüne Ergebnis im Land dürfte ihr da nicht sonderlich schaden.
Göring-eckardt wird natürlich in der wahrscheinlichen Koalition auch mit Thomas Kemmerich zu tun bekommen. Der Thüringer FDP-CHEF darf das einzige Mandat seiner Landespartei einnehmen.
Der Unternehmer hat gestern Abend in sein Erfurter Lieblingslokal eingeladen. Mehr als 100 Anhänger sind gekommen. „Ich bin stolz auf diese Truppe“, sagt er. Auch sein Stellvertreter Gerald Ullrich, der auf Listenplatz 2 nicht im Bundestag sitzen wird, gibt sich zufrieden. „Wir haben mit wenigen Ressourcen viel erreicht“, sagt er. „Das zeigt doch, dass unsere Ideen richtig sind“.
Kemmerich präsentiert sich schon wenige Minuten nach der ersten Prognose staatstragend. „Wir müssen jetzt das wieder gewonnene Vertrauen konkret in Politik umsetzen und damit umgehen.“Dies bedeute: Einsatz für solide Finanzen, Digitalisierung und ein modernes Einwanderungsgesetz.
Je länger der Abend dauert und je mehr Zahlen aus den Wahllokalen eintrudeln, umso klarer wird, dass sich etwas in dieser Republik und vor allem im Bundesland namens Thüringen verändert hat. Die CDU gewinnt zwar in allen Wahlkreisen. Aber überall steht die AFD bei den Erststimmen auf Platz 2. In Ostthüringen kommt sie der Union sogar gefährlich nahe.
Auch beim landesweiten Zweitstimmenergebnis liegt die AFD mit über 20 Prozent auf dem zweiten Platz – weit vor Linke, SPD, FDP und Grünen.