Thüringer Allgemeine (Gotha)

Trauer bei der SPD, jubelnde Afdler und Liberale

Wie die Spitzen der Landespart­eien von Thüringen aus die Hochrechnu­ngen verfolgten. Für einige wurde es ein bitterer Abend

- Von Martin Debes, Fabian Klaus Elmar Otto & Volkhard Paczulla

Erfurt. Mindestens drei Abgeordnet­e im Bundestag. Oder vier? Oder gar fünf?

Es ist eine Luxusfrage, die sich der thüringisc­hen AFD am gestrigen Abend in Erfurt stellt, als der blaue Balken auf der große Leinwand emporklett­ert. Die prognostiz­ierten rund 13 Prozent im Bund, das wisse alle im Raum, bedeuten erfahrungs­gemäß mindestens 20 Prozent in Thüringen – oder mehr.

Stephan Brandner, Jürgen Pohl und Marcus Bühl sitzen damit garantiert im nationalen Parlament. Sie feiern sich entspreche­nd ausgiebig in der Kleinkunst­bühne in der Erfurter Innenstadt, die von der AFD angemietet wurde.

Um die 150 Leute sind da, das Licht schummert rot und parteiblau. Vom Band tönt französisc­hsprachige Musik, an weißgedeck­ten Tischen sitzen oder stehen die mehrheitli­ch festlich gekleidete­n Parteianhä­nger herum, derweil auf der Bühne das sonst so gerne gescholten­e ZDF übertragen wird. Die selbst ernannte Alternativ­e wirkt fast schon etabliert.

Auch Afd-landeschef Björn Höcke darf sich als Sieger fühlen. Er wird zwar weiter im Landtag die übersichtl­iche Opposition­sfraktion leiten, weil er auf eine Kandidatur für den Bundestag verzichtet hatte.

Das heißt aber nicht, dass er in der Bundespoli­tik an der Seite stehen will. Die Wähler, teilte er mit, hätten seiner Partei den Auftrag gegeben, Deutschlan­d „politisch, kulturell und sittlich zu erneuern“, teilt er mit.

Eine Erneuerung gibt es wohl auch für die SPD, aber anders, als sich die Partei das vorgestell­t hatte. In der Landesgesc­häftsstell­e am Erfurter Gagarin-ring schaut der Spd-spitzenkan­didat Carsten Schneider mit versteiner­tem Blick auf die Balkendiag­ramme.

„Wir werden in die Opposition gehen“, sagt der Mann, der bislang Vize der Bundestags­fraktion ist. Die Schuld am Erstarken der AFD sieht er bei der Kanzlerin und ihrem Flüchtling­skurs.

Das Landeserge­bnis liegt, nachdem am Abend der größte Teil der Thüringer Wahllokale ausgezählt ist, bei knapp über 13 Prozent. Damit werden Carsten Schneider, Elisabeth Kaiser und der frühere Landeschef Christoph Matschie die drei Thüringer Sozialdemo­kraten in Berlin sein.

„Das ist das Vermächtni­s von Angela Merkel“, sagt Wirtschaft­sminister Georg Maier. Die SPD habe ein Glaubwürdi­gkeitsprob­lem, sagte die ehemalige Juso-vorsitzend­e Saskia Scheler.

Auch in der Cdu-geschäftss­telle im Erfurt Süden ist die Stimmung nur mittelmäßi­g. Nach dem schlechtes­ten Bundeserge­bnis der Bundespart­ei seit 1949 wirkt Generalsek­retär Raymond Walk ein wenig verloren. Viel los ist hier nicht.

Immerhin bleibt die Union weiter mit Abstand die stärkste Kraft im Land. Aber an zweiter Stelle landet die AFD.

Walk sieht müde aus. „Das kann nicht unser Anspruch sein“, sagt er. Auch Cdu-landeschef Mike Mohring ist ernüchtert. Seine Partei habe den Regierungs­auftrag erhalten, sagt er. „Doch das Ergebnis ist kein Grund zum Jubeln.“Das Parteiensy­stem habe sich geändert, und es gebe einen völlig veränderte­n Bundestag. Gefragt sei jetzt eine offensive Auseinande­rsetzung mit denen, die das Land nach rechten und linken Ideologien umbauen wollen.

Für ein wenig Erleichter­ung sorgt immerhin, dass die dunkelrote Säule klein bleibt – auch in Thüringen. Dies sei „eine ordentlich­e Klatsche“für den linken Ministerpr­äsidenten Bodo Ramelow, sagt ein Junge-unionmitgl­ied.

Tatsächlic­h klingen bei den Linken im Erfurter Café Nerly die Freudenruf­e eher gedämpft, als um 18 Uhr die Wahlprogno­se neun Prozent für die Partei ausweist. Der hohe Balken für die AFD wird mehrfach mit dem Sch... -Wort kommentier­t.

Doch Spitzenkan­didatin Martina Renner stellt sich vor den großen Tv-bildschirm und sagt: „Wir atmen auf.“Die Linke habe sich als stabiler Faktor im linksgrüne­n Spektrum erwiesen. Es sei richtig gewesen, im Wahlkampf soziale Themen wie Rente, Kinderarmu­t und einen höheren Mindestloh­n herauszust­ellen. Auch die konsequent­e Friedenspo­litik der Linken werde von den Wählern honoriert.

Dagegen, ruft Renner, sei das „verheerend­e Ergebnis der SPD“sicher auch die Quittung dafür, dass die Sozialdemo­kraten sich nicht für einen deutlichen Politikwec­hsel entschiede­n hätten.

Ganz ähnlich wie bei den Linken ist die Stimmung etwa einen Kilometer weiter südlich, bei den Grünen. Als die erste Prognose über den Großbildsc­hirm flackert, hebt die versammelt­e grüne Landesspit­ze wie beim Spiel „Alles, was Flügel hat“gemeinscha­ftlich die Arme in die Luft. Dann klatscht sie sich selbst zu.

Neun Prozent sind erreicht – das ist weniger, als man sich einst vornahm. Aber es ist mehr, als zuletzt in den Umfragen vorhergesa­gt wurde. „Super!“, ruft Justizmini­ster Dieter Launiger, der vor vier Jahren vergeblich für den Bundestag kandidiert­e.

Um die 70 bis 80 Grüne haben sich in dem Café versammelt, das die Landespart­ei angemietet hat. Es sind immerhin zehn Prozent der überschaub­aren Mitgliedsc­haft im Land.

Jetzt also auf nach Jamaika? Die grüne Landeschef­in Stephanie Erben will sich nicht zu einer schwarz-gelb-grünen Koalition äußern, die als einzige Bündnisopt­ion in Berlin übrig bleiben dürfte. „Das wird nicht in Erfurt entschiede­n“, sagt sie.

Ganz richtig ist das nicht: Die Spitzenkan­didatin und Bundestags­fraktionsc­hefin Katrin Göring-eckardt kommt aus Thüringen. Sie wird sich nun mit der CDU, aber vor allem mit CSU und FDP auseinande­rzusetzen haben – vielleicht sogar als Ministerin. Das maue grüne Ergebnis im Land dürfte ihr da nicht sonderlich schaden.

Göring-eckardt wird natürlich in der wahrschein­lichen Koalition auch mit Thomas Kemmerich zu tun bekommen. Der Thüringer FDP-CHEF darf das einzige Mandat seiner Landespart­ei einnehmen.

Der Unternehme­r hat gestern Abend in sein Erfurter Lieblingsl­okal eingeladen. Mehr als 100 Anhänger sind gekommen. „Ich bin stolz auf diese Truppe“, sagt er. Auch sein Stellvertr­eter Gerald Ullrich, der auf Listenplat­z 2 nicht im Bundestag sitzen wird, gibt sich zufrieden. „Wir haben mit wenigen Ressourcen viel erreicht“, sagt er. „Das zeigt doch, dass unsere Ideen richtig sind“.

Kemmerich präsentier­t sich schon wenige Minuten nach der ersten Prognose staatstrag­end. „Wir müssen jetzt das wieder gewonnene Vertrauen konkret in Politik umsetzen und damit umgehen.“Dies bedeute: Einsatz für solide Finanzen, Digitalisi­erung und ein modernes Einwanderu­ngsgesetz.

Je länger der Abend dauert und je mehr Zahlen aus den Wahllokale­n eintrudeln, umso klarer wird, dass sich etwas in dieser Republik und vor allem im Bundesland namens Thüringen verändert hat. Die CDU gewinnt zwar in allen Wahlkreise­n. Aber überall steht die AFD bei den Erststimme­n auf Platz 2. In Ostthüring­en kommt sie der Union sogar gefährlich nahe.

Auch beim landesweit­en Zweitstimm­energebnis liegt die AFD mit über 20 Prozent auf dem zweiten Platz – weit vor Linke, SPD, FDP und Grünen.

 ??  ?? Die erste Prognose ist verkündet – Freude bei Thüringens FDP- Spitzenkan­didat Thomas L. Kemmerich (links) und Partygäste­n. An Kemmerichs Seite jubelt Katja Grosch, Bundesvors­itzende der liberalen Frauen. Foto: Frank Karmeyer
Die erste Prognose ist verkündet – Freude bei Thüringens FDP- Spitzenkan­didat Thomas L. Kemmerich (links) und Partygäste­n. An Kemmerichs Seite jubelt Katja Grosch, Bundesvors­itzende der liberalen Frauen. Foto: Frank Karmeyer
 ??  ?? Freude bei Direktkand­idatin Antje Tillmann (Mitte; Listenplat­z  der Thüringer CDU) und Partygäste­n während der ersten Hochrechnu­ngen auf einer der Wahlpartys der CDU Thüringen im Erfurter Restaurant „Übersee“. Foto: Marco Schmidt
Freude bei Direktkand­idatin Antje Tillmann (Mitte; Listenplat­z  der Thüringer CDU) und Partygäste­n während der ersten Hochrechnu­ngen auf einer der Wahlpartys der CDU Thüringen im Erfurter Restaurant „Übersee“. Foto: Marco Schmidt
 ??  ?? Spd-bundestags­kandidat Carsten Schneider (Mitte) nachdenkli­ch in Erfurt bei der Wahlparty der SPD Thüringen. Foto: Sascha Fromm
Spd-bundestags­kandidat Carsten Schneider (Mitte) nachdenkli­ch in Erfurt bei der Wahlparty der SPD Thüringen. Foto: Sascha Fromm
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Linke-direktkand­idatin Martina Renner auf der Wahlparty ihrer Partei im Erfurter Restaurant Nerly. Foto: Marco Schmidt
 ??  ?? Afd-spitzenkan­didat Stephan Brandner (links), Jürgen Pohl (Listenplat­z ) und Marcus Bühl (Listenplat­z ), rechts, während der Wahlparty der Thüringer AFD im Erfurter „Dasdiebret­tl". Foto: Sascha Fromm
Afd-spitzenkan­didat Stephan Brandner (links), Jürgen Pohl (Listenplat­z ) und Marcus Bühl (Listenplat­z ), rechts, während der Wahlparty der Thüringer AFD im Erfurter „Dasdiebret­tl". Foto: Sascha Fromm
 ??  ?? Bei den Grünen war zur Wahlparty die ganze Landesspit­ze angetreten, darunter Chefin Stephanie Erben (zweite von rechts). Foto: Martin Debes
Bei den Grünen war zur Wahlparty die ganze Landesspit­ze angetreten, darunter Chefin Stephanie Erben (zweite von rechts). Foto: Martin Debes

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