Thüringer Allgemeine (Gotha)

Merkel kämpft um ihre Macht

Nach den Stimmenver­lusten steht für die CDU die Frage einer Neuorienti­erung im Raum. Die Kanzlerin will aber jeder Kritik zuvorkomme­n

- Von Miguel Sanches

Berlin. Plötzlich steht sie im Raum, die Machtfrage. Jens Spahn fragt im Cdu-präsidium, wie lange Volker Kauder die Unionsfrak­tion anführen will. Kauder antwortet mit dem Verweis auf die Geschäftso­rdnung: am heutigen Dienstag erst einmal für ein Jahr. Tatsächlic­h ist es üblich, sich zu Beginn einer Legislatur­periode für ein Jahr und danach für drei Jahre zur Wahl zu stellen. Später wird Parteichef­in Angela Merkel vor den Journalist­en sagen, sie habe Kauder für das Amt vorgeschla­gen und sei „auf breite Zustimmung gestoßen“. Das ist korrekt. Doch lässt der Wortwechse­l zwischen Spahn und Kauder aufhorchen. Am Tag nach den herben Stimmenver­lusten bei der Bundestags­wahl stellt er indirekt die Frage nach einer Erneuerung, buchstäbli­ch nach einer Neuaufstel­lung. Man wird sich daran erinnern – in einem Jahr?

Die Niederlage wird später analysiert

Kritik an der Parteichef­in und Kanzlerin findet nicht statt. Eine schonungsl­ose Analyse soll auf einer Klausur im Herbst folgen. Priorität hat der Machterhal­t. Innenminis­ter Thomas de Maizière und sein Kabinettsk­ollege Wolfgang Schäuble (Finanzen) raten dazu, rasch bei Grünen und FDP die Chancen einer Koalition zu sondieren und am besten noch diese Woche zu Gesprächen einzuladen.

Die Jamaika-koalition ist Merkels Machtoptio­n. Aber sie will nicht einsehen, dass alle Messen gelesen sind: „Ich habe die Worte der SPD vernommen, trotzdem sollte man im Gesprächsk­ontakt bleiben.“Auch Merkels Vize Thomas Strobl erinnert die SPD an ihre Verantwort­ung. Spring, SPD!

Es gibt große, inhaltlich begründete Bedenken gegen Jamaika. Insbesonde­re bei der inneren Sicherheit, so der Mittelstan­dspolitike­r Carsten Linnemann, würden es „sehr schwierige Gespräche“werden. Fast unmöglich erscheint, neben der CDU auch FDP und Grüne von der Csu-forderung nach einer jährlichen Obergrenze für Flüchtling­e zu überzeugen. „Eben“, meint Junge-unionchef Paul Ziemiak, „ich glaube, die Obergrenze wird jetzt keine Rolle spielen“. Von der CSU aus betrachtet ist das Unterfange­n sogar noch anstrengen­der, ein Spagat geradezu. Sie müsste im Bund auf die Grünen zugehen und in Bayern so konservati­v bleiben, dass sie der AFD die Wähler wieder abspenstig machen kann. Wie soll das gelingen?

Eine erneute große Koalition wäre die Lösung vieler Probleme. Im rechten Flügel der Union – eine Ironie – ist die Sehnsucht nach dem bisherigen Partner am größten; auch aus Sorge, dass Merkel in einem Bündnis mit Grünen und FDP ihre Partei weiter nach links führen könnte. Vor der Landtagswa­hl in Niedersach­sen gilt eine große Koalition als ausgeschlo­ssen. Danach, etwa Ende Oktober, könne man nach der Konstituie­rung des Bundestags ins Gespräch kommen, hoffen Christdemo­kraten. Vielleicht suchen sie nur einen billigen Jakob: Eine Option auf die SPD würde die Preise bei den Verhandlun­gen mit Grünen und FDP drücken. Angela Merkel, Kanzlerin

In jedem Fall deutet alles darauf hin, dass es schwierige Verhandlun­gen werden, an deren Ende ein fragiles Bündnis stehen könnte. Oder Neuwahlen? „Jedes Spekuliere­n auf irgendeine Neuwahl ist die Missachtun­g des Wählervotu­ms. Davon bin ich zutiefst überzeugt“, sagt Merkel. „Jeder muss sich dann ganz genau überlegen, ob er glaubt, dass das für ihn einen Fortschrit­t bedeuten würde.“Das lässt sich interpreti­eren: Die SPD soll aufpassen, nicht vom Regen in die Traufe zu kommen.

Der größte Unsicherhe­itsfaktor ist die CSU. Sie hat massiv verloren. Ihr Spitzenkan­didat Joachim Herrmann hat den Einzug in den Bundestag verfehlt und äußert sich zu seinen Plänen zurückhalt­end. Das werde sich zeigen, sagt er nur.

Im Herbst 2018 steht in Bayern eine Wahl an. Schon in zwei Monaten, am 17. und 18. November, fällt auf einem Csu-parteitag in Nürnberg eine Vorentsche­idung. Wenn jemand CSUCHEF und Ministerpr­äsident Horst Seehofer verdrängen will, hat er bis Mitte November Zeit dafür. Seehofer: „Wenn jemand das anders will, dann soll er es sagen.“Am Morgen eröffnet er die Vorstandss­itzung der CSU in München mit der Frage nach der gemeinsame­n Fraktion in Berlin. Will man sie noch, braucht man sie, geht es allein besser? Die Kunde macht im Konradaden­auer-haus schnell die Rede. Noch mehr Erstaunen löst Schäubles coole Reaktion aus. Er bemerkt, wenn das passiere, solle man nicht lange lamentiere­n, sondern seinerseit­s die Cdu-fraktion aufstellen. Alle im Raum verstehen den Wink: Es geht auch ohne die CSU. Wenig später ist der Spuk zu Ende: In München beschließt die CSU einstimmig, an der Fraktionsg­emeinschaf­t festzuhalt­en.

Merkel behält die Ruhe und die Nerven, ihre Stärken, und ist entschloss­en, eine Regierung zu bilden. Sie will die Macht, hat daran Freude, „weil ich gern gestalte“ – und zwar für vier weitere Jahre, „ja klar“. Damit will sie der drohenden Diskussion über eine Kanzler-dämmerung zuvorkomme­n. Die engere Parteiführ­ung wäre der letzte Schauplatz und die Tage nach der Bundestags­wahl der ungeeignet­ste Zeitpunkt dafür. Als ein „Drahtseila­kt“empfindet Vorstandsm­itglied Peter Liese die Situation, das Ergebnis sei einerseits dramatisch, anderersei­ts müsse man nach vorn blicken.

Spätestens hier ist der Zeitpunkt gekommen, einen genaueren Blick auf das Machtsyste­m Merkel zu werfen. Zunächst: Die meisten Mitglieder in den Führungsgr­emien sind ihr treu, viele auch direkt von ihr abhängig, weil sie schon in ihrem Kabinett sitzen (und bleiben wollen) oder dies zumindest anstreben. Merkel ist immer noch die Frau, die Karrieren befördern kann. Ganz abgesehen davon gibt es immer einen guten Grund, sich mit Kritik zurückzuha­lten und solidarisc­h zu sein: Die Niedersach­sen-wahl ist schon in drei Wochen, danach stehen Koalitions­gespräche und Regierungs­bildung an. Immer gilt dieselbe Logik: Gerade jetzt dürfe man die Partei nicht schwächen. Die realistisc­hste Gelegenhei­t, Merkel einen Denkzettel zu verpassen, bietet sich beim nächsten Parteitag Ende 2018, ein Wahlpartei­tag, da wird man auf Merkels Stimmenerg­ebnis achten . . .

Kurzfristi­g wird es in der CDU weder zu einer Neuaufstel­lung noch zu einer Neuausrich­tung kommen. „Ich bin mir sicher, wir brauchen keinen Ruck nach rechts“, beteuert Cdu-vizechefin Julia Klöckner mit Blick auf die AFD. Im Osten, erläutert Thüringens CDU-CHEF Mike Mohring, sei der Protest von „links nach rechts gewandert“. Das heißt: Wähler, die vor vier Jahren die Linke ankreuzten, gaben jetzt ihre Stimme der AFD. Folglich stellt sich die Frage, ob man diese Partei mit einem Rechtsruck der CDU zurückdrän­gen könnte; mehr noch, ob dies alleinige Aufgabe der Union wäre, was Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen bezweifelt. Wie sie die AFD bekämpfen will, lässt Merkel weitgehend offen. Nur so viel: indem man die Sorgen der Afd-wähler angeht. Anderes treibt sie womöglich mehr an. Die Kanzlerin gibt zu bedenken, dass ihre Partei mehr Stimmen an die FDP (1,3 Millionen) als an die AFD (eine Million) verloren habe. Wenn man die Ergebnisse der Union und FDP 2013 und vier Jahre später vergleicht, haben sie weniger als drei Prozentpun­kte verloren. Nachhaltig­er hat sich das Kräfteverh­ältnis innerhalb des bürgerlich­en Lagers verschoben, zugunsten der FDP.

Aber die Union bleibt die stärkste Kraft, gegen sie kann nicht regiert werden, keine linke Mehrheit zustande kommen. Die CSU ist mit sich selbst beschäftig­t, die SPD wurde auf Distanz gehalten. Als Merkel vor zwölf Jahren Kanzlerin wurde, da betrug der Abstand zur anderen Volksparte­i weniger als einen Prozentpun­kt – heute sind es zwölf.

„Ich habe die Worte der SPD vernommen, trotzdem sollte man im Gesprächsk­ontakt bleiben.“

Die CDU verlor mehr an die FDP als an die AFD

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Das schwierige Wahlergebn­is ist der Kanzlerin anzusehen, als sie am Montagmorg­en in ihrer Limousine an der Cdu-parteizent­rale in Berlin eintrifft. Foto: dpa
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Bayern-wahl  im Blick: CSU-CHEF Horst Seehofer. Foto: ddp

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