Ankunft in Berlin
Neun Abgeordnete aus Thüringen sitzen neu im Bundestag, einer davon war schon mal früher dort. Jetzt beginnt ihr nächstes politisches Leben
Berlin. Am Gleis 9 des Erfurter Hauptbahnhofs stehen die Menschen dicht an dicht. ICE 1533 ist pünktlich für 9.12 Uhr angesagt. Der Sprinter, wie ihn die Bahn nennt, benötigt keine zwei Stunden bis Berlin.
Über den Bahnsteig kommt Christian Hirte gelaufen. Dafür, dass der Bundestagsabgeordnete gerade für die CDU seinen Wahlkreis in Westthüringen wieder gewonnen hat, schaut er ziemlich missmutig drein. Der Absturz der Union, der Aufstieg der AFD: „Ja, klar“, sagt er, „das hatten wir uns anders vorgestellt“.
Doch, was soll‘s, es wird weiter regiert in der großen Hauptstadt, trotz Verlusten, trotz der neuen Konkurrenz von rechts, gen Jamaika. Antje Tillmann, die Erfurter Abgeordnete, versucht die Zweifel wegzulachen. „Übersiehst du mich etwa?“, ruft sie Hirte von der Seite zu. „Oder willst du mit mir etwa keine Fraktion gründen?“
Es ist Dienstag, und an Dienstagen finden im Bundestag zumeist die Fraktionssitzungen statt. Das ist auch nach einer Wahl nicht anders, bloß, dass es diesmal eben die erste Zusammenkunft der Wahlperiode ist. Allein die wiederauferstandene FDP konnte es nicht abwarten und hat sich schon am Montag konstituiert.
Also gehen alle, die im deutschen Parlament zu tun haben, auf Dienstreise nach Berlin. Etwa 20 Meter entfernt von Tillmann und Hirte steigt eine junge Frau mit einem großen silbernen Koffer in den gerade eingefahrenen Zug. Roter Mantel, rote Schuhe, rotes Parteibuch: Elisabeth Kaiser ist die neue, jüngste und einzige Spd-bundestagsabgeordnete aus Thüringen.
Eben noch war sie Pressesprecherin der Spd-landtagsfraktion, nun wird sie im Reichstag unter der Glaskuppel sitzen. Wie fühlt sich das an? „Komisch“, sagt sie, während sie im Ice-restaurant einen Latte Macchiato trinkt, „vor allem nach diesem Ergebnis“.
Sie trat in Ostthüringen an, dort, wo die AFD besonders stark abschnitt. Gerade einmal 11,8 Prozent der Erststimmen erreichte sie, und das waren immer noch mehr, als es an Parteistimmen im Wahlkreis gab.
Den Abend zuvor hatte sie im Landesvorstand in Erfurt mit den Genossen zusammengesessen, um zu ergründen, was schief lief. Antworten hatte keiner.
Im Gesicht der Neuabgeordneten lässt sich die ganze Ratlosigkeit ihrer Partei ablesen. Wenigstens, sagt sie, gehe die SPD jetzt in die Opposition, das habe sie sich schon vor der Wahl gewünscht. „In der Koalition mit der Union könnten wir nichts mehr ausrichten.“ Wo bei CDU und SPD Zweifel wabern, herrscht bei der AFD dröhnende Zuversicht. Kaum jemand verkörpert diesen Zustand so eindrücklich wie Stephan Brandner, der Abgeordnete, der, so wie Kaiser, aus Gera kommt. Gerne gibt er dem Fernsehen Interviews und erzählt davon, was er so vorhat.
In Thüringen will er neben dem Wahlkreisbüro, das er als Landtagsabgeordneter in Gera hat, noch eines in Erfurt eröffnen. Geld für Mitarbeiter hat er jetzt ja genug: „Um die 20 000 Euro“, sagt er, „fließen ja da im Monat pro Abgeordneter.“
Brandner ist schon vollständig als Parlamentarier ausgerüstet, mit vorläufigem Abgeordnetenausweis, Bahnfreifahrtkarte 1. Klasse und einem kleinen Lexikon, in dem erklärt wird, wo im Bundestag was ist.
Da im Reichstag noch kein Platz für die neuen Fraktionen freigeschaufelt wurde, treffen sich die Afdler in einem Nebengebäude, auf der anderen Seite der Spree. 93 der 94 gewählten Afd-abgeordneten sind da, was wohl die wichtigste Nachricht an diesem Tag ist: Keiner hat sich der Renegatin Frauke Petry angeschlossen, die nun auch aus der AFD austreten will.
Von den 22 Abgeordneten, die Thüringen im neuen Bundestag vertreten, sind neun neu – und davon wiederum fünf von der AFD: zwei Rechtsanwälte (Brandner und Jürgen Pohl), ein promovierter Orthopäde (Robby Schlund), ein studierter Medieninformatiker (Marcus Bühl) und ein promovierter Politikwissenschaftler (Anton Friesen).
Alle haben bisher gut und eng mit dem rechtsäußeren Landesund Fraktionschef Björn Höcke zusammengearbeitet. Brandner war sein Stellvertreter in der Fraktion, Pohl sein Büroleiter, Bühl und Friesen dienten als Fraktionsmitarbeiter. Schlund sitzt im Landesvorstand.
Zu Bühl ist noch zu bemerken, dass er der Bruder des Cdu-landtagsabgeordneten Andreas Bühl ist und dass gegen ihn ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung läuft. Er soll 2000 Euro an Einnahmen nicht angegeben haben. Das Geld stammte mutmaßlich aus öffentlichen Geldern, welche die Afd-abgeordnete Wiebke Muhsal einem Urteil des Amtsgerichts Erfurt zufolge zweckentfremdet haben soll. Die Politikerin hat dagegen Berufung eingelegt; Bühl selbst will zu der misslichen Angelegenheit in Berlin „keine Auskunft“geben.
Inzwischen, es ist Nachmittag, trudeln drüben im Reichstag auch die Spd-abgeordneten zu ihrer Sitzung ein. Neben Elisabeth Kaiser ist auch Christoph Matschie neu aus Thüringen dabei – wobei der frühere Landesvorsitzende und Bildungsminister vor ziemlich langer Zeit schon ziemlich lange im Bundestag saß. Von 1990 bis 2004 war er hier Abgeordneter, zuletzt sogar als Parlamentarischer Staatssekretär.
Ist dies also eine Rückkehr? Matschie, der einen gediegenen Zweiwochenbart und eine schicke Ledertasche trägt, denkt nach. Nein, sagt er, es sei doch eher ein Neuanfang. „Als ich hier wegging, war ja noch Schröder Kanzler. Jetzt ist alles ganz anders geworden.“
Das lässt sich so formulieren. Matschie darf sich mit 56 Jahren wieder hinten anstellen. Er würde, sagt er, gerne einen Sitz im Bildungsausschuss haben, oder im Auswärtigen Ausschuss. „Mal sehen, was sich ergibt.“
Neben ihm taucht Carsten Schneider auf, der jetzt, mit Anfang 40, mit Abstand der Mächtigste im Thüringer SPD-TRIO ist. Die Nachricht, dass er der neue Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer werden soll, ist noch ganz frisch, viele gratulieren ihm.
Der Erfurter Abgeordnete steigt damit zur Nummer 2 hinter der neuen Fraktionschefin Andrea Nahles auf – und faktisch zur Nummer 3 in der Partei. Dies sei, sagt die Nummer 1 namens Martin Schulz, die nur ein paar Meter entfernt steht, „auch ein Signal an den Osten“.
Fünf Neue von der AFD, zwei von der SPD: Die restlichen beiden frischgeschlüpften Thüringer Abgeordneten kommen von der FDP. Es sind Landeschef Thomas Kemmerich und der Unternehmer Gerald Ullrich, der erst am Morgen nach der Wahlnacht erfuhr, dass er auch dabei ist.
Die Fraktion hatte schon am Montag getagt, im Genscherhaus, der Parteizentrale. „Locker, gelöst, zufrieden“, so beschreibt Kemmerich die Stimmung. Es gebe viel Neugier, viel Engagement, obwohl viele einer Koalition mit Union und Grünen nicht trauten.
Er selbst, sagt der Neuabgeordnete, sei strikt gegen Jamaika. „Kaum vorstellbar, dass man vernünftige Absprachen treffen kann.“Aber, da ist er ganz Politiker: „Man kann auch nichts ausschließen.“Das ist wohl der einzige Satz, der gerade in der deutschen Hauptstadt so etwas wie Allgemeingültigkeit besitzt.
Ausweis und Freikarte für die Bahn