Thüringer Allgemeine (Gotha)

Ankunft in Berlin

Neun Abgeordnet­e aus Thüringen sitzen neu im Bundestag, einer davon war schon mal früher dort. Jetzt beginnt ihr nächstes politische­s Leben

- Von Martin Debes

Berlin. Am Gleis 9 des Erfurter Hauptbahnh­ofs stehen die Menschen dicht an dicht. ICE 1533 ist pünktlich für 9.12 Uhr angesagt. Der Sprinter, wie ihn die Bahn nennt, benötigt keine zwei Stunden bis Berlin.

Über den Bahnsteig kommt Christian Hirte gelaufen. Dafür, dass der Bundestags­abgeordnet­e gerade für die CDU seinen Wahlkreis in Westthürin­gen wieder gewonnen hat, schaut er ziemlich missmutig drein. Der Absturz der Union, der Aufstieg der AFD: „Ja, klar“, sagt er, „das hatten wir uns anders vorgestell­t“.

Doch, was soll‘s, es wird weiter regiert in der großen Hauptstadt, trotz Verlusten, trotz der neuen Konkurrenz von rechts, gen Jamaika. Antje Tillmann, die Erfurter Abgeordnet­e, versucht die Zweifel wegzulache­n. „Übersiehst du mich etwa?“, ruft sie Hirte von der Seite zu. „Oder willst du mit mir etwa keine Fraktion gründen?“

Es ist Dienstag, und an Dienstagen finden im Bundestag zumeist die Fraktionss­itzungen statt. Das ist auch nach einer Wahl nicht anders, bloß, dass es diesmal eben die erste Zusammenku­nft der Wahlperiod­e ist. Allein die wiederaufe­rstandene FDP konnte es nicht abwarten und hat sich schon am Montag konstituie­rt.

Also gehen alle, die im deutschen Parlament zu tun haben, auf Dienstreis­e nach Berlin. Etwa 20 Meter entfernt von Tillmann und Hirte steigt eine junge Frau mit einem großen silbernen Koffer in den gerade eingefahre­nen Zug. Roter Mantel, rote Schuhe, rotes Parteibuch: Elisabeth Kaiser ist die neue, jüngste und einzige Spd-bundestags­abgeordnet­e aus Thüringen.

Eben noch war sie Pressespre­cherin der Spd-landtagsfr­aktion, nun wird sie im Reichstag unter der Glaskuppel sitzen. Wie fühlt sich das an? „Komisch“, sagt sie, während sie im Ice-restaurant einen Latte Macchiato trinkt, „vor allem nach diesem Ergebnis“.

Sie trat in Ostthüring­en an, dort, wo die AFD besonders stark abschnitt. Gerade einmal 11,8 Prozent der Erststimme­n erreichte sie, und das waren immer noch mehr, als es an Parteistim­men im Wahlkreis gab.

Den Abend zuvor hatte sie im Landesvors­tand in Erfurt mit den Genossen zusammenge­sessen, um zu ergründen, was schief lief. Antworten hatte keiner.

Im Gesicht der Neuabgeord­neten lässt sich die ganze Ratlosigke­it ihrer Partei ablesen. Wenigstens, sagt sie, gehe die SPD jetzt in die Opposition, das habe sie sich schon vor der Wahl gewünscht. „In der Koalition mit der Union könnten wir nichts mehr ausrichten.“ Wo bei CDU und SPD Zweifel wabern, herrscht bei der AFD dröhnende Zuversicht. Kaum jemand verkörpert diesen Zustand so eindrückli­ch wie Stephan Brandner, der Abgeordnet­e, der, so wie Kaiser, aus Gera kommt. Gerne gibt er dem Fernsehen Interviews und erzählt davon, was er so vorhat.

In Thüringen will er neben dem Wahlkreisb­üro, das er als Landtagsab­geordneter in Gera hat, noch eines in Erfurt eröffnen. Geld für Mitarbeite­r hat er jetzt ja genug: „Um die 20 000 Euro“, sagt er, „fließen ja da im Monat pro Abgeordnet­er.“

Brandner ist schon vollständi­g als Parlamenta­rier ausgerüste­t, mit vorläufige­m Abgeordnet­enausweis, Bahnfreifa­hrtkarte 1. Klasse und einem kleinen Lexikon, in dem erklärt wird, wo im Bundestag was ist.

Da im Reichstag noch kein Platz für die neuen Fraktionen freigescha­ufelt wurde, treffen sich die Afdler in einem Nebengebäu­de, auf der anderen Seite der Spree. 93 der 94 gewählten Afd-abgeordnet­en sind da, was wohl die wichtigste Nachricht an diesem Tag ist: Keiner hat sich der Renegatin Frauke Petry angeschlos­sen, die nun auch aus der AFD austreten will.

Von den 22 Abgeordnet­en, die Thüringen im neuen Bundestag vertreten, sind neun neu – und davon wiederum fünf von der AFD: zwei Rechtsanwä­lte (Brandner und Jürgen Pohl), ein promoviert­er Orthopäde (Robby Schlund), ein studierter Medieninfo­rmatiker (Marcus Bühl) und ein promoviert­er Politikwis­senschaftl­er (Anton Friesen).

Alle haben bisher gut und eng mit dem rechtsäuße­ren Landesund Fraktionsc­hef Björn Höcke zusammenge­arbeitet. Brandner war sein Stellvertr­eter in der Fraktion, Pohl sein Büroleiter, Bühl und Friesen dienten als Fraktionsm­itarbeiter. Schlund sitzt im Landesvors­tand.

Zu Bühl ist noch zu bemerken, dass er der Bruder des Cdu-landtagsab­geordneten Andreas Bühl ist und dass gegen ihn ein Verfahren wegen Steuerhint­erziehung läuft. Er soll 2000 Euro an Einnahmen nicht angegeben haben. Das Geld stammte mutmaßlich aus öffentlich­en Geldern, welche die Afd-abgeordnet­e Wiebke Muhsal einem Urteil des Amtsgerich­ts Erfurt zufolge zweckentfr­emdet haben soll. Die Politikeri­n hat dagegen Berufung eingelegt; Bühl selbst will zu der misslichen Angelegenh­eit in Berlin „keine Auskunft“geben.

Inzwischen, es ist Nachmittag, trudeln drüben im Reichstag auch die Spd-abgeordnet­en zu ihrer Sitzung ein. Neben Elisabeth Kaiser ist auch Christoph Matschie neu aus Thüringen dabei – wobei der frühere Landesvors­itzende und Bildungsmi­nister vor ziemlich langer Zeit schon ziemlich lange im Bundestag saß. Von 1990 bis 2004 war er hier Abgeordnet­er, zuletzt sogar als Parlamenta­rischer Staatssekr­etär.

Ist dies also eine Rückkehr? Matschie, der einen gediegenen Zweiwochen­bart und eine schicke Ledertasch­e trägt, denkt nach. Nein, sagt er, es sei doch eher ein Neuanfang. „Als ich hier wegging, war ja noch Schröder Kanzler. Jetzt ist alles ganz anders geworden.“

Das lässt sich so formuliere­n. Matschie darf sich mit 56 Jahren wieder hinten anstellen. Er würde, sagt er, gerne einen Sitz im Bildungsau­sschuss haben, oder im Auswärtige­n Ausschuss. „Mal sehen, was sich ergibt.“

Neben ihm taucht Carsten Schneider auf, der jetzt, mit Anfang 40, mit Abstand der Mächtigste im Thüringer SPD-TRIO ist. Die Nachricht, dass er der neue Parlamenta­rische Fraktionsg­eschäftsfü­hrer werden soll, ist noch ganz frisch, viele gratuliere­n ihm.

Der Erfurter Abgeordnet­e steigt damit zur Nummer 2 hinter der neuen Fraktionsc­hefin Andrea Nahles auf – und faktisch zur Nummer 3 in der Partei. Dies sei, sagt die Nummer 1 namens Martin Schulz, die nur ein paar Meter entfernt steht, „auch ein Signal an den Osten“.

Fünf Neue von der AFD, zwei von der SPD: Die restlichen beiden frischgesc­hlüpften Thüringer Abgeordnet­en kommen von der FDP. Es sind Landeschef Thomas Kemmerich und der Unternehme­r Gerald Ullrich, der erst am Morgen nach der Wahlnacht erfuhr, dass er auch dabei ist.

Die Fraktion hatte schon am Montag getagt, im Genscherha­us, der Parteizent­rale. „Locker, gelöst, zufrieden“, so beschreibt Kemmerich die Stimmung. Es gebe viel Neugier, viel Engagement, obwohl viele einer Koalition mit Union und Grünen nicht trauten.

Er selbst, sagt der Neuabgeord­nete, sei strikt gegen Jamaika. „Kaum vorstellba­r, dass man vernünftig­e Absprachen treffen kann.“Aber, da ist er ganz Politiker: „Man kann auch nichts ausschließ­en.“Das ist wohl der einzige Satz, der gerade in der deutschen Hauptstadt so etwas wie Allgemeing­ültigkeit besitzt.

Ausweis und Freikarte für die Bahn

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Elisabeth Kaiser will von Berlin aus „nicht die Welt erobern“, wie sie sagt – sondern sich auf den Wahlkreis in Ostthüring­en konzentrie­ren. Ansonsten würde sie gern im Ausschuss für Familie, Frauen und Senioren arbeiten. Fotos: Martin Debes
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Hinten gibt der gewesene Kanzlerkan­didat und Immer-noch-spd-vorsitzend­e Martin Schulz Interviews, vorn versucht sich Christoph Matschie im Bundestag zu akklimatis­ieren. Und über allem thront die Reichstags­kuppel.
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