Kein Wahlaufruf
Martin Debes zu den neuesten Abstimmungen in Thüringen
Sofern die Verklärung, die zuweilen unserer Erinnerung innewohnt, nicht trügt, schien am 6. Mai 1990 die Sonne. Es war, wie die Meteorologen sagen, sommerlich warm.
Die Männer trugen ihren alten Hochzeitsanzug auf. Die Frauen zeigten ihr schönstes Kleid her, das sie sich im Exquisit gekauft hatten – oder mit teuer umgetauschtem Westgeld jenseits der Grenze, die erst seit einem halben Jahr offen war.
Man machte sich schick für die Demokratie. Schließlich gingen die Ddr-bürger zu ihrer ersten freien und geheimen Kommunalwahl. Abzustimmen war neben den Kreistagen über die Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen.
1 595 411 Menschen stimmten an jenem Tag in den sich gerade auflösenden Bezirken Erfurt, Gera und Suhl ab. Dies entsprach 78,6 Prozent der Wahlberechtigten.
Dies waren zwar nicht die 98,7 Prozent, die angeblich ein Jahr zuvor an den Kommunalwahlen teilnahmen. Aber im Unterschied zu damals hatten die Menschen nun eine echte Wahl unter echten Kandidaten, die nicht auf einer sogenannten Einheitsliste einer angeblichen Nationalen Front standen. Und, auch das war neu: Sie durften darauf vertrauen, dass die Zahlen nicht gefälscht wurden.
Am Sonntag stehen nun in Thüringen die Wahlen der Landräte und Bürgermeister an. Vor sechs Jahren lag die Wahlbeteiligung bei 48,6 Prozent. Im Januar, als im Saale-orla-kreis schon der Landrat gewählt wurde, nahmen nur 33,2 Prozent der Menschen teil.
Denn auch dies ist das Privileg einer wirklich freien Abstimmung. Niemand muss hingehen. Niemand wird zu seinem Grundrecht gezwungen. Niemand muss darüber vor seiner Parteileitung oder der Fdjgruppe Rechenschaft ablegen.
Deshalb ist dies hier auch kein Wahlaufruf, davon gab es einst genug. Nur so viel: Am Sonntag soll die Sonne scheinen. Und es wird sommerlich warm.