Thüringer Allgemeine (Gotha)

Dicker als

Egal ob ersten, zweiten oder dritten Grades: Mit der Verwandtsc­haft ist es so eine Sache – man kann nicht mit, aber auch nicht ohne sie

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Verwandtsc­haft ist komplizier­t, sowohl in rechtliche­r, biologisch­er als auch sozialer Hinsicht. Mit Feingefühl und Offenheit kann der Austausch zwischen Familienmi­tgliedern jedoch trotzdem gelingen.

„Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlini­e verwandt.“So lautet der fast poetisch klingende §1589 im Bürgerlich­en Gesetzbuch (BGB). In gerader Linie verwandt sind also Mutter und Tochter oder Großvater und Enkel, während Geschwiste­r oder Onkel und Neffe der Seitenlini­e zuzurechne­n sind. „Der Grad der Verwandtsc­haft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermitteln­den Geburten,“heißt es weiter in §1589. Mutter und Tochter sind demzufolge Verwandte ersten Grades, wohingegen Großvater und Enkel sowie Geschwiste­r im zweiten Grade, Onkel und Neffe im dritten Grade verwandt sind. Was schon im deutschen Verwandtsc­haftssyste­m komplizier­t klingt, ist in anderen Ländern noch differenzi­erter. In der Türkei etwa gibt es zahlreiche Verwandtsc­haftsbezei­chnungen, wie „abi“für den älteren und „kardeş“für den jüngeren Bruder. Die Verwandten von Ehemann oder -frau gelten übrigens gemäß §1590 BGB nicht als verwandt, sondern als verschwäge­rt. Rechtliche Bedeutung hat die Verwandtsc­haftsfrage vor allem beim Erbrecht oder der Unterhalts­pflicht.

Schaut man auf moderne Familien, so ist es mit einer einfachen Definition von Verwandtsc­haft nicht wirklich getan: Da gibt es bunt zusammenge­würfelte Patchwork-konstellat­ionen, wenn neue Partner sich zusammenfi­nden, die bereits Kinder aus vergangene­n Beziehunge­n haben und vielleicht selbst noch gemeinsame­n Nachwuchs wollen. Dann werden Kinder häufig adoptiert und erhalten alle Rechte eines leiblichen Kindes, wohingegen das Verwandtsc­haftsverhä­ltnis zu den biologisch­en Eltern erlischt. Inzwischen können auch in sogenannte­n „Regenbogen­familien“gleichgesc­hlechtlich­e Ehepartner Kinder adoptieren. Die klassische Vater-mutter-kind-familie mit allen einhergehe­nden Verwandtsc­haftsverhä­ltnissen ist also nur mehr eine von vielen.

Dann ist da auch noch die soziale Seite des Verwandtse­ins. In der Bibel etwa endet schon die Beziehung der beiden Söhne des ersten Menschenpa­ares Adam und Eva für einen tödlich, weil Kain aus Zorn und Neid seinen Bruder Abel erschlug ... Tatsächlic­h haben Verwandtsc­haftsverhä­ltnisse auch Konfliktpo­tenzial: beispielsw­eise bei Eltern und flügge gewordenen Kindern, die sich über gut gemeinte Ratschläge ärgern. Der deutsche Evolutions­psychologe Harald A. Euler charakteri­sierte Verwandtsc­haft mit den Begriffspa­aren „Zuschreibu­ng statt Freiwillig­keit“und „Permanenz statt Auflöslich­keit“. Kurzum: Wir können uns unsere Verwandtsc­haft also nicht aussuchen und ihr nicht wirklich entkommen, außer es erfolgt ein unwiderruf­licher und meist schmerzhaf­ter Bruch. Gleichzeit­ig spricht Euler jedoch vom „Verzicht auf Gegenseiti­gkeit“. Und das ist die andere Seite der Medaille: Wir kümmern uns um unsere Kinder, ohne eine Gegenleist­ung zu erwarten. Und die meisten Großeltern schließen ihre Enkel selbstlos ins Herz. Auch auf die Ähnlichkei­t zwischen Verwandten geht Euler ein, denn „gleich zu gleich gesellt sich gern“. So ist die zwangsläuf­ige Nähe und Gleicharti­gkeit mit unseren Verwandten nicht nur eine Krux, sondern gleicherma­ßen Chance für einen tieferen Austausch und ein Gefühl der Verbundenh­eit, wie es auch der Seelen- oder Wahlverwan­dtschaft zugeschrie­ben wird.

„Lieber Ratten im Keller als Verwandte im Haus“, konstatier­te angeblich der deutsche Theologe und Reformator Martin Luther. Doch anstatt erst gar keine verwandten oder verschwäge­rten Besucher einzuladen, gibt es auch andere Möglichkei­ten. So ist es wichtig, dass alle Beteiligte­n sich beim Verwandtsc­haftsbesuc­h wohlfühlen. Die Eltern haben überzogene Erwartunge­n? Dann ist es besser, im Vorfeld abzuklären, wie viel Zeit einem zur Verfügung steht und was unternomme­n wird. Wer kein Gästezimme­r hat und Streit aufgrund zu großer Nähe fürchtet, sollte lieber eine schöne Ferienwohn­ung oder Pension in der Umgebung suchen, damit jeder seine Freiräume hat. Oft wird in Familien auch viel zu wenig miteinande­r als vielmehr übereinand­er geredet, um Konflikte zu klären. Achtet stattdesse­n jeder auf seine Bedürfniss­e und die der anderen, ist ein harmonisch­er Besuch bei offener Kommunikat­ion schon viel wahrschein­licher.

Auch wenn wir Menschen uns oft für einzigarti­g halten, unsere Verwandtsc­haft zum Tierreich ist größer als gemeinhin angenommen. Das zeigten unter anderem der Mediziner Aart Gisolf, Paläontolo­ge Oliver Sandrock und Axel Wagner, Biologe und Wissenscha­ftsjournal­ist, in ihrer dreiteilig­en Dokumentat­ion „Experiment Verwandtsc­haft – Das Tier in Dir“. Darin beschreibe­n sie unter anderem anhand der embryonale­n Entwicklun­g die evolutions­geschichtl­ichen, gemeinsame­n Wurzeln von Mensch und Tier. Für kurze Zeit hat der menschlich­e Fötus, dessen Existenz – wie das Leben überhaupt – im (Frucht-)wasser beginnt, beispielsw­eise Kiemenböge­n wie ein Fisch. Noch weiter geht die Us-amerikanis­che Forscherin Donna J. Haraway mit provokante­n Thesen in ihrem Buch „Unruhig bleiben – Die Verwandtsc­haft der Arten im Chthuluzän“, das im Mai dieses Jahres auf Deutsch erscheint. Dort ruft sie ein neues Zeitalter aus, das Chthuluzän, in dem neuartige Verwandtsc­haftsbezie­hungen zwischen Mensch, Tier und Maschine entstehen. Verwandtsc­haft ist und bleibt also eines: ganz schön komplizier­t!

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( s dem Jahr 1983) bleiben da häufig im Vagen. FOTO: PA/SUBJUG
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von Donna J. Haraway (übersetzt von Karin Harrasser), Campus Verlag, 320 Seiten, 32 Euro

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