Thüringer Allgemeine (Gotha)

Paradiesis­che Zustände

Stadtschre­iberin Annabella Gmeiner über die Gemeinsamk­eit der Unterschie­de – und den Versuch einer Antwort auf die Frage, was Nächstenli­ebe eigentlich bedeutet

- Von Annebella Gmeiner

Ich möchte Ihnen heute eine kleine Geschichte erzählen. In dieser Geschichte gibt es einen Garten. Er ist traumhaft und perfekt gepflegt. In ihm traut sich kein Grashalm über das festgesetz­te Maß hinaus zu wachsen. Jeder Zentimeter ist akkurat gestutzt, die üppige Blütenprac­ht ist kunstvoll arrangiert. In eben diesem Garten liegt, in göttlicher Symmetrie, ein Teich und in ebendiesem schwimmt: ein Koi. Er gleitet unter der Oberfläche durch das klare Wasser, seine orangefarb­enen Schuppen leuchten zwischen Seerosen. Er schwimmt unter der weißen Brücke hindurch und bricht mit dem Kopf durch die Wasserober­fläche. Er nickt der Nachtigall zu, die ein paar Flossensch­läge entfernt ein Vogelbad genießt. „Ich grüße Sie herzlich im Paradies, Verehrtest­e.“

Die Nachtigall plustert geschmeich­elt die Brust. „Ein wirklich wundervoll­es Fleckchen, das Sie Ihr Eigen nennen.“„Da haben Sie recht. Fühlen Sie sich wohl! Sie sind ein gern gesehener Gast. Doch glauben Sie bloß nicht, dass jedem Einlass gewährt wird. Nein, nein. Das Gesindel hat draußen zu bleiben.“Der Koi blickt hinüber zu einer mit dichten Hecken bepflanzte Grenze: „Geben Sie bloß acht! Da draußen hausen sie wie die Hottentott­en.“Die Nachtigall nickt und wünscht dem aufmerksam­en Wächter einen schönen Tag.

Sie denkt über seine warnenden Worte nach. Alsbald gewinnt

Sechs Monate in Gotha

▶ ▶ Jährlich wählt eine Jury aus Bewerbunge­n eine Autorin oder einen Autoren als Stadtschre­iber aus.

In diesem Jahr ist es die Österreich­erin Annabella Gmeiner aus Klaus in Vorarlberg. Sie erhielt das mit 5000 Euro dotierte Kurdlaßwit­z-stipendium und lebt für sechs Monate in ihre Neugier die Oberhand. Geschwind flattert sie in die angedeutet­e Ecke und linst, verborgen im Gestrüpp, zum Nachbargru­ndstück. Im ersten Moment ▶ ▶ der Stadtschre­iber-wohnung am Brühl.

In Gotha will Gmeiner einen Fantasy-roman für Jugendlich­e schreiben, der zum Teil in der Stadt spielt.

Diese Kolumne über ihre Eindrücke und Erlebnisse schreibt sie exklusiv für unsere Zeitung. ist sie völlig vor den Schnabel gestoßen. Der Kontrast der wild wuchernden Natur zum Paradies des Koi kann größer kaum sein. Nie gemähte Gräser, verdreht von Wind und Wetter, in die Äste der Bäume verhakt, die bis zum Boden reichen. Und mittendrin macht ein Pfau eigenartig­e Verrenkung­en. „Was machen Sie da?“, entfährt es der Nachtigall. „Yoga“, antwortet dieser gelassen. „Und was ist das hier?“Der Pfau dreht schwungvol­l ein Rad. „Sieh dich um. Dies ist ein unverzweck­ter Ort. Es ist das Paradies.“Die Nachtigall lacht kurz und spitz auf. „Das sagt Ihr Nachbar von seinem Garten auch.“Der Pfau dreht den langen Hals, sein Kopfputz schillert in der Sonne. „Der Koi irrt sich. Geben Sie acht vor seinen giftigen Gedanken. Er ist nichts weiter als ein hohles Prestigeob­jekt ohne Seele.“

Wenn sie nur wüssten, denkt die Nachtigall. Wenn sie nur wüssten, dass sie beide recht haben. Und unrecht.

Sicher kennen Sie solche Geschichte­n aus dem Alltag. Vielleicht denken Sie sogar ähnlich wie Koi oder Pfau? Oder ist Ihnen die Nachtigall näher? Es gibt häufig Situatione­n in meinem Leben, die mich an genau diesen Punkt bringen. Wer hat recht? Was ist besser oder richtig? Wer definiert die Parameter?

Manchmal habe ich Mühe damit, passende Antworten zu finden. Die Nachtigall erkennt den gemeinsame­n Nenner der Kontrahent­en, ihre Gemeinsamk­eit liegt in ihren Unterschie­den. Die wirkliche Herausford­erung besteht darin, Unterschie­de auch wertfrei anzuerkenn­en. So könnte man auch in Harmonie neben dem Nachbar leben.

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Annabella Gmeiner ist Laßwitzsti­pendiatin. Foto: Peter Riecke

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