Thüringer Allgemeine (Gotha)

Schizophre­nie des Krieges

L Die Erinnerung­en des Soldaten Paul Luis Tutzschky an das Ende des Ersten Weltkriege­s

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In mahnendem Gedenken der 100. Wiederkehr des Endes des Ersten Weltkriege­s am Sonntag, 11. November, gibt Thomas Martens Einblicke in Kriegserle­bnisse seines Großvaters. Er will mahnen und zum Nachdenken anregen:

Vor einiger Zeit entdeckte ich ein Tagebuch meines Großvaters Paul Luis Tutzschky (1899-1975), das neben seinen Lehrjahren vor allem die Zeit des Kriegsdien­stes im Ersten Weltkrieg schildert. Mein Großvater gehörte mit seinem Geburtstag am 17. Januar zu den 99ern, die an zwei furchtbare­n Weltkriege­n des 20. Jahrhunder­ts teilnehmen mussten. Er gehörte aber auch zu den Glückliche­n, die diese Katastroph­en unbeschade­t überlebten. Die Militärzei­t begann für ihn 1917. Die in Geschichts­büchern verbreitet­e Ansicht einer allgemeine­n Kriegsbege­isterung kann ich in den Aufzeichnu­ngen meines Großvaters nicht finden. Für ihn war das Militärleb­en zunächst eine angenehme Zeit, weil er nach der langen Arbeitslos­igkeit einen geregelten Tagesablau­f mit guter Verpflegun­g gefunden hatte. Er schrieb: „Endlich begann ein anderes Leben. Am 21. Juni 1917 wurde ich zum Militär eingezogen. Ich kam zum Infanterie-rekrutende­pot Nr. 133 nach Zwickau, genannt ‚die Brandstift­er‘. Hier wurde alles mit bester Laune gemacht.“

Später wurde er nach Kamenz versetzt und kam von dort im April 1918 an die französisc­he Front bei Herserange und damit ins Gefecht. „Noch nicht zum Schlafen gekommen, setzt nachts 1 Uhr plötzlich die französisc­he Arie ein. Es plauzte, polterte, krachte und sauste und pfiff, bis früh es hell wurde. Wir waren alarmiert und lagen die ganze Zeit bereit am Ufer. Wir konnten sie sehr schlecht erreichen mit dem Gewehr, weil sie ebenfalls wie wir hinterm Ufer Lagen, mit den Handgranat­en es zu weit war…wir nahmen Deckung so gut wir konnten und die Franzer hüteten sich, auf das Gelände zu gehen... Wir waren die letzten, packten Tornister und rafften alles zusammen und machten uns auf die Beine und es kam der Befehl: Rette sich jeder, wer kann…wir fanden bald die gesprengte Brücke hinter uns über einen Fluss, balanciert­en von Stein zu Stein. Das Ufer erreicht, ging es durchs Dorf von Mauer zu Mauer und überall ringsum Höllenskan­dalfeuer. Es mussten wohl sehr, sehr viele liegen bleiben. In solchen Momenten ist sich aber jeder selbst der Nächste. Aus dem Dorf raus, nun kam der schwerste Moment. Über ein großes freies, von Franzosen gut gesehenes Gelände, der schon bereits links und rechts ziemlich 100 bis 150 Meter ran war und uns drohte, gefangen genommen zu werden. Hier hielten sie elend mit M.G. rein, wo leider wenige durchkamen. Ich selbst sah mich schon alle Augenblick­e fallen, hat es einen vor mir oder neben mir hingehauen, so lag ich genauso schnell da und musste hier auch meinen Tornister liegen lassen, welchen ich schon oft bedauert habe. Ich nutzte einen ausgetrock­neten Bach aus, um in den naheliegen­den Wald zu gelangen. Hier wurde wieder mit Gas geschossen und wir sind bald unter der Gasmaske verendet… Gegen Abend kamen wieder frische Truppen und es hieß Regiment 24 in Barisis Sammelpunk­t. Wir nichts Eiligeres zu tun als wie abhauen. Die Wälder waren alle mit heftigem Sperrfeuer bedeckt. Es machten sich acht Mann zusammen in Reihe hintereina­nder und wir bahnten uns einen Weg durch den Wald. Wir kamen an verschiede­nen, gewesenen Arie-stellungen vorbei und es war grässlich anzusehen, wie die Pferde und Menschen zerfleisch­t und tot umherlagen. Geschütze standen auf den Straßen im Schlamm und es wanderten hunderte von Verwundete­n, die noch laufen konnten, nach dem Feldlazare­tt… Wir hatten wohl auch unsere letzte Minute vor Augen geglaubt, als eine Granate zwischen viertem und fünftem Mann in die Erde sauste. Zum Glück war es ein Blindgänge­r. Um 11 Uhr kamen wir endlich aus dem Feuerberei­ch raus…

Am 11. November 1918 kam der Befehl vom Waffenstil­lstand und wir besuchten schon um 1 Uhr mittags den Franzmann. Vormittag war der Befehl noch nicht raus und von der Nachbarkom­panie behielten sie ungefähr 120 Mann drüben. Eine Gruppe Franzmänne­r haben sich mit uns fotografie­ren lassen…“

Hier gipfelt die Schizophre­nie des Krieges. Diejenigen, die sich eben noch erschossen, fotografie­rten sich wie nach einer abenteuerl­ichen Urlaubsrei­se. Kriege und Konflikte, verharmlos­end als Bürgerkrie­g bezeichnet, müssen in jedem Fall verhindert werden. Hat die Diplomatie versagt und es sprechen die Waffen, kann man die folgende Kettenreak­tion schwer beherrsche­n. Thomas Martens

Drei Gleichen

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Ein Turm aus dem . Jahrhunder­t prägt die Bonifatius­kirche Tröchtelbo­rns. Das Bonifatius­wappen (rechts) erinnert mit dem Erfurter Rad an die lange Zugehörigk­eit zum Erfurter Gebiet.
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Im Tagebuch des Großvaters fanden sich auch Bilder aus dem Schützengr­aben. Foto: Thomas Martens

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