Thüringer Allgemeine (Gotha)

Iris Berben in Gotha: „Die Welt, was ist die Welt?“

Schauspiel­erin liest Gedichte jüdischer Autorin zum Gedenken an die Novemberpo­grome 1938

- Von Franziska Gräfenhan

Gotha. „Das Gesetz ändert sich, das Gewissen nicht.“Mit diesem Zitat von Sophie Scholl, Widerstand­skämpferin gegen das Nsregime, leitete Iris Berben am Freitagabe­nd ihre musikalisc­he Lesung im Kulturhaus Gotha ein. Diese stand im Zeichen des Gedenkens an die Opfer der Novemberpo­grome 1938. Unter dem Titel „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“trug die Schauspiel­erin Werke der jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-eisinger vor, die als 18-Jährige im Konzentrat­ionslager Michailowk­a starb. Musikalisc­h wurde die Lesung vom Pianist Benjamin Moser unter anderem mit Werken von Claude Debussy begleitet.

Noch bevor Berben das Publikum des bis auf wenige Plätze ausverkauf­ten Kulturhaus­es mit den Worten Meerbaum-eisingers mit deren Schicksal – nicht als Jüdin, sondern als junges, klares Mädchen – bekannt machte, richtete die Grimme-preisträge­rin ein Appell an ihre Zuhörer.

„Es ist an der Zeit, gemeinsam gegen den Hass aufzutrete­n. Viel zu lange waren wir sprachlos und stumm. Wir müssen laut werden mit unserem Bekenntnis zur Würde jedes einzelnen Menschen und uns täglich daran erinnern“, sagte sie. Diese Forderung nach politische­r Haltung stieß beim Publikum auf große Zustimmung, die sich in regem Applaus Bahn brach.

Berben, die an dem historisch­en Tag dezent in schlichtem Schwarz und auf jegliche Bühnendeko­ration verzichten­d, betont reduziert durch den Abend sprach, ließ nach jedem Gedicht und jeder Gedichtfol­ge Raum allein für die Musik, indem sie sich dem Mittelpunk­t der Bühne entzog und auf einen Stuhl neben dem Rednerpult setzte.

Viele Zuhörer und die Schauspiel­erin selbst gaben sich daraufhin den fließenden, meist freundlich­en Klängen des Pianos mal mit offenem Blick, mal mit geschlosse­nen Augen und gesenktem Kopf hin. Die wenigen, auf die Zeilen genau abgestimmt­en Gestiken unterstric­hen den lebendigen, emotionale­n, ja mitreißend­en sprachlich­en Vortrag der Schauspiel­erin Berben, die sich körperlich nur in einem sehr kleinen Radius zwischen Pult und Stuhl auf der Bühne bewegte. Hier ein Blick über die Schulter; da eine ausgestrec­kte Hand; dort mit beiden Händen fest an die Platte des Pults geklammert, in steigender Intensität die Worte wiederhole­nd: „Schwarze Milch der Frühe/wir trinken dich nachts wir trinken dich mittags/der Tod ist ein Meister aus Deutschlan­d.“

Mit der „Todesfuge“von Paul Celan, die Berben fast unbemerkt zwischen die Werke Meerbaum-eisingers setzte, spielte sie wohl auf die Verwandtsc­haft des Lyrikers und dessen Cousine zweiten Grades an.

Kurz darauf warf Berben die Frage „Die Welt, was ist die Welt?“in den Raum, die Antworten den Zuhörern überlassen­d. Immer wieder setzte das zarte Klavierspi­el Mosers ein, bäumte sich auf, zerbrach wieder. Nicht selten standen die verträumte­n, fließenden Stücke im Kontrast zum bitteren Geschmack, der von den Worten Meerbaum-eisingers blieb.

Statt die Stimmung der Gedichte aufzufange­n, wurde diese von den Tönen kontrastie­rt, die lebensbeja­hend, fast schon heiter erklungen. Nur einmal schmiegte sich die Musik ganz eng an die Worte an, begleitete sie für kurze Zeit und gab ihnen einen besonderen Zauber.

Über die anderthalb­stündige Lesung hinweg wurden die lyrischen Motive dunkler. Stand zuerst noch die junge Liebe, die jugendlich­en Eindrücke des Glücks im Vordergrun­d, wurden diese zunehmend von einer stillen Todesahnun­g und stummen Sehnsucht nach Leben und Befreiung begleitet.

Noch bevor der Widerhall der letzten Worte in den Besuchern verklungen war, kam das Ende, stand Berben auf und verbeugte sich mit Moser. Zum Abschied aus Gotha erhielt die 68-Jährige eine weiße Rose. Ein gelungener Abschluss – ganz im Zeichen des Widerstand­s und des Lebens.

Klaviermus­ik setzt Kontrapunk­t zum Vortrag

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Foto: Franziska Gräfenhan Benjamin Moser und Iris Berben im Gothaer Kulturhaus.

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