Vom linken Sündenfall
Am Ende des vorigen Jahrtausends, am 11. März 1999, erklärte Oskar Lafontaine seinen Rücktritt von seinen Ämtern als Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzender. Fast auf den Tag genau zwei Jahrzehnte später, am 10. März 2019, kündigte Sahra Wagenknecht ihren Rückzug vom selbst ausgerufenen Bündnis namens „Aufstehen“an. Kurz darauf teilte sie mit, aus gesundheitlichen Gründen nicht wieder als Fraktionsvorsitzende im Bundestag kandidieren zu wollen.
Beide Ereignisse haben mit zwei starken, hochintelligenten und sehr komplizierten Persönlichkeiten zu tun, die in den vergangenen Jahren eine politische und dann auch eine private Einheit bildeten. Aber sie dokumentieren ebenso die strategischen und inhaltliche Defizite der deutschen Linken, die sich in ihrer zunehmenden Zersplitterung manifestieren.
Die Urspaltung, der linke Sündenfall, hat nun auch schon mehr als ein Jahrhundert hinter sich. Schon im Kaiserreich wurde die USPD gegründet und Ende 1918 dann die KPD, die später fusionierten, um in den letzten Jahren der Weimarer Republik gemeinsam gegen die sogenannten Sozialfaschisten von der SPD zu kämpfen. Auch so gelangten die richtigen Faschisten an die Macht.
Die Wiedervereinigung, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gab, fand bekanntlich nur in der sowjetischen Besatzungszone statt, und dies auch nur unter erheblichem Zwang. Später, in der DDR, zelebrierte die sogenannte Einheitspartei ihren sozialistischen Alleinvertretungsanspruch. Die bundesrepublikanische Sozialdemokratie galt als verweichlichte und verwestlichte Kleinbürgerpartei.
Die Spaltung blieb. „Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten“, skandierte die dogmatische Linke im Westen frei nach Karl Liebknecht. Ewig standen die Bolschewiki gegen die Menschewiki und umgekehrt.
Ab den 1980er-Jahren wurde es noch unübersichtlicher. In Westdeutschland gründeten sich die Grünen als linksökologische Partei, in Ostdeutschland überlebte die SED das Ende der DDR als poststalinistische, zunehmend pragmatische Regionalpartei, um dann ab 2005 unter Führung Lafontaines mit dem SPDAbleger WASG zur gesamtdeutschen Linken zusammenzuwachsen.
Doch wie das so ist, ob nun bei Sozialdemokraten, Grünen oder Linken: Immer gibt es in einer linken Partei noch eine Parteilinke, denen alles nicht links genug ist. Und immer gab es Versuche, die Linke zu einen, gegen den Kapitalismus und für den Weltfrieden, wobei diese Einigungsversuche oft nur zur nächsten Spaltung oder Parteineugründung führten.
Parallel erodierte das, was die Soziologen als Wählermilieus bezeichnen. Das Proletariat, die angeblich einst führende Klasse, wurde in der zunehmend arbeitsteiligen, digitalisierten und akademisierten Gesellschaft immer mehr zur Randgruppe.
Die neueste Spaltungsvariante ist die Erfindung einer linken Sammlungsbewegung, wie sie in unterschiedlichen Formen in Frankreich, Italien oder Spanien zu besichtigen ist. Die ungefähre Begründung: Da die Linke, egal, ob sie nun rot oder grün schimmere, nur noch die urbane Elite vertrete und die teils prekären Schichten darunter vergessen habe, benötige sie einen gemeinsamen Neuanfang.
Über die Trennung zur Einheit: Lafontaine verkörperte diese absurde Strategie. In Sahra Wagenknecht fand er die kongeniale Partnerin für seinen Plan, eine Art Volkspartei zu formen, um SPD und Grüne zu kapern. Auch sie verfolgte zunehmend seinen antielitären, populistischen und, ja, teils nationalistischen Ansatz, der bereits unter Jean-Luc Mélenchon oder Beppe Grillo funktionierte. Gerechtigkeit für alle, aber für Deutsche zuerst: So sollte es gelingen, die linke Front zu schließen und die AfD klein zu halten.
Doch die Bewegung „Aufstehen“, die nun offenkundig gescheitert ist, hat entscheidende Strukturfehler. Sie ist eine künstliche, von oben initiierte und ziemlich schlecht organisierte Veranstaltung – und damit das Gegenteil von dem, was man eine Graswurzelbewegung nennt. Außerdem engagierte sich Wagenknecht nur halb, derweil Lafontaine die rote Eminenz im Hintergrund gab.
Hinzu kommt, dass das Parteiensystem trotz Erschütterungen im wirtschaftlich soliden Deutschland immer noch einigermaßen stabil wirkt, wenigstens im europäischen Vergleich. Am Ende haben Lafontaine und Wagenknecht der Linken geschadet. Anstatt Rot-Rot-Grün im Bund zu forcieren, verhinderten sie die Debatte darüber. Auch dies ist einer der vielen Gründe für den Niedergang der SPD – von dem übrigens, welch Ironie, nur die zusehends verbürgerlichten Grünen profitieren. Wenn die nächste Regierung schwarzgrün oder jamaikanisch wird, darf sich die Union beim Ehepaar aus dem Saarland bedanken.