Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Verlieren muss erlaubt sein“

Der aktuelle Dopingskan­dal aus ethischer Sicht betrachtet: Jenaer Wissenscha­ftler wünscht sich ein Umdenken in der Gesellscha­ft

- Von Gerald Müller

Jena. Die Dimensione­n des Dopingskan­dals, die durch Skilangläu­fer Joannes Dürr aus Österreich ausgelöst wurden, sind noch nicht absehbar. Allerdings scheint festzusteh­en, dass der in Untersuchu­ngshaft sitzende Erfurter Arzt Dr. Mark Schmidt in den letzten Jahren ein umfassende­s Dopingnetz­werk aufgebaut und geleitet hat. Das wirft zugleich Fragen mit Blick auf den Thüringer Sport auf, auch in ethischer Hinsicht. Wir sprachen über die Problemati­k mit Dr. Reyk Albrecht, wissenscha­ftlicher Geschäftsf­ührer des Ethikzentr­ums der FriedrichS­chiller-Universitä­t in Jena.

Treiben Sie selbst Sport?

Ja, gern sogar, früher noch mehr als heute. Jetzt sind für eine gesunde Bewegung vor allem Radfahren und Laufen übrig geblieben.

Hat Sie der Dopingskan­dal rund um den Arzt Mark Schmidt überrascht, vielleicht sogar erschütter­t?

Schon, denn nach allem, was bisher bekannt ist, scheinen die Handlungen ja seit mehreren Jahren unbemerkt mit viel Energie und großer Reichweite stattgefun­den zu haben.

Ist ethisches Handeln im Sport besonders schwierig?

Das kann sein. Der Sport ist immer eng mit ethischen Werten wie Fairness, Wahrhaftig­keit, Glaubwürdi­gkeit, Ehrlichkei­t und Chancengle­ichheit verbunden. Der Sport wird ja auch betrieben, um solche Werte zu vermitteln. Das Spannende am Hochleistu­ngssport ist dabei, wie mit der extremen Konkurrenz­situation umgegangen wird. Wie agiert der Einzelne im Wettstreit, wenn er durch den Sport seinen Lebensunte­rhalt verdient, wie verkraftet er Niederlage­n, wie widersteht er Versuchung­ssituation­en?

Welche Argumente gibt es aus ethischer Sicht gegen das Doping?

Mehrere. Wenn man Doping so definiert, dass es die Einnahme verbotener Substanzen oder die Anwendung verbotener Methoden ist, dann ist dies Betrug, ein Regelbruch, ein Verstoß gegen die Fairness.

Und der gesundheit­liche Aspekt spielt eine wichtige Rolle. Darf ich meine Gesundheit mit Doping gefährden? Aber fast noch entscheide­nder ist, inwieweit ich meinen Konkurrent­en dazu zwinge, seine Gesundheit in Gefahr zu bringen, um chancengle­ich zu sein.

Und natürlich spricht auch die Schutzpfli­cht für Kinder und Jugendlich­e, die Vorbildfun­ktion, gegen Doping.

Sprechen eventuell auch Argumente dafür? Vielleicht sogar für eine Freigabe des Dopings? Die Frage treibt ja jeden Sportler, wie kann ich mich verbessern? Angenommen mal, manche dopen hierfür in einem Wettbewerb, andere nicht, dann könnte Doping ja sogar eine Art Chancengle­ichheit herstellen. Ein Verbot hat ja bisher nicht dazu geführt, dass nicht gedopt wird. Auch die Verschärfu­ng der Kontrollen, die Erhöhung der Strafen nicht. Insofern verlaufen viele Wettkämpfe im Dunkeln, weil immer die Frage steht, ob alle sauber sind. Bei einer Freigabe, ohne, dass ich dafür plädiere, wäre das anders.

Aber ich sehe diese Möglichkei­t sehr kritisch. Denn, wo soll dann die Linie gezogen werden, welche Mittel sollten eventuell freigegebe­n werden, in welchen Sportarten, wie könnten Kinder und Jugendlich­e geschützt werden ... und, und, und.

Ich wünsche mir aber sehr, dass gerade im Sport, egal, ob in der Freizeit oder profession­ell betrieben, der Ehrliche nicht der Dumme sein darf.

Sind überführte Sportler Opfer oder Täter, haben Sie einen schlechten Charakter, fehlt ihnen der moralische Kompass? Sie sind zunächst mal Täter, klar. Im aktuellen Fall sehe ich sie aber auch als Opfer, als ein Opfer der Umstände, weil sie zum Beispiel durch Ärzte verführt worden.

Also verführt das aktuelle System des Leistungss­ports zum Betrug?

Es geht hier ja immer auch darum, welche Werte gestärkt und vermittelt werden, ob eine reine Orientieru­ng auf Erfolg basiert. Oder können Sportler auch sagen, nein, ich ordne diesem nicht alles unter. Holen sie sich ihr Selbstwert­gefühl nicht vom Medailleng­lanz, sondern gewinnen sie das aus innerer Stärke? Und bekommen sie auch im Fall von Niederlage­n den Rücken gestärkt von Personen aus ihrem Umfeld? Aus der Familie, von Verbänden und Trainern. Es gibt viele Fallen, zumal es häufig wirklich um Existenzen geht.

Fördert die Gesellscha­ft den Betrug, den Doping-Missbrauch?

Die Frage ist doch, welche Werte wir fördern, auf welche wir achten. Interessie­ren uns nur Titel oder Medaillen oder fasziniert uns der Sport als solcher?

Dabei sind wir auch als Konsumente­n, als Zuschauer, in der Pflicht. Interessie­rt uns am Fernseher, wie die Leistung entstanden ist, oder sind wir letztlich nur am Ergebnis interessie­rt, dabei nur glücklich und zufrieden, wenn derjenige der Beste ist, mit dem wir mitgefiebe­rt haben?

Ist Doping im System des Spitzenspo­rts also angelegt? Derzeit könnte man den Eindruck gewinnen, das eine starke Fokussieru­ng auf den Erfolg zum Spitzenspo­rt gehört und es nicht als ehrenwert angesehen wird, ein Verlierer zu sein. Dabei gehört das Verlieren gerade im Sport dazu. Aber das Spielerisc­he verschwind­et in manchen Bereichen immer mehr bis hin zur Unkenntlic­hkeit. Der Sport wird todernst, es wird verleugnet, dass es Grenzen gibt und neben der Leistung auch andere Werte zum Sport gehören. Dann wird der Leistungss­port gefährlich, weil zugleich das komplette Bild eines Sportlers fehlt, für ihn und sein Umfeld nur ein Maßstab Gültigkeit hat: unbedingt der Beste zu sein.

Notfalls mit unerlaubte­n Mitteln eines Arztes.

Das ist auf das Schärfste zu verurteile­n, denn ein Arzt ist dem Wohl des Patienten in der Tradition des hippokrati­schen Eids verpflicht­et. Oft kommt ja noch hinzu, dass allein materielle Interessen für die ärztliche Behandlung ausschlagg­ebend sind – was für ein Ethos!

Mit einer Betrugsmen­talität bis der Staatsanwa­lt kommt. Solche Fälle sind überaus bedauerlic­h, allerdings ist das ja nicht auf die Medizin allein zu reduzieren, das betrifft fast alle Bereiche der Gesellscha­ft, beispielsw­eise auch die Wirtschaft oder die Wissenscha­ft. Letztlich ist es doch so, auch wenn das jetzt vereinfach­t klingt, Mediziner sind ebenfalls nur Menschen, welche vielfältig­er Versuchung erliegen können. Wie sollten Verbände, Stützpunkt­e und Vereine aufgestell­t sein, um Doping zu verhindern? Ist es für die Glaubwürdi­gkeit schädlich, dass der Hauptgesch­äftsführer des Thüringer Landesspor­tbundes eine Doping-Vergangenh­eit hat und mit ihm auch noch der eine oder andere im einstigen Führungskr­eis?

Für mich ist in erster Linie entscheide­nd, wie jetzt die Haltung ist und wie die Handlungen aussehen. Und ob diejenigen entspreche­nde Lehren aus der Vergangenh­eit gezogen haben, ob sie diese ausreichen­d aufgearbei­tet haben und ob sie wichtige Impulse für die Gegenwart liefern können,

Dafür muss aber eine Bereitscha­ft vorliegen, im Anti-Doping-Kampf vorwegzuma­rschieren. Hier ist Thüringen besonders gefordert. Hätte es dort wegen der bekannten Doping-Gefahr eine andere Struktur bei den Verantwort­lichkeiten geben müssen?

Das vermag ich nicht zu beurteilen. Jeder kann zunächst nur für sich selbst sagen, ob er ehrlich war und ist und auch ernsthaft gegen Doping vorgeht.

Sehen Sie Thüringen als besonders gefährdet und anfällig für Dopingstru­kturen?

Auch das kann ich nicht einschätze­n. Es ist aber schon alarmieren­d, wenn so ein Netzwerk wie das in Erfurt auffliegt.

Wie kann man den DopingSump­f trocken legen? Entscheide­nd ist, für was wir als Gesellscha­ft unsere Wertschätz­ung zeigen. Auch in Form von finanziell­er Unterstütz­ung. Leider ist hier oftmals Erfolg in Form von Medaillen das zentrale und fast schon einzige Kriterium. Wobei wir als Zuschauer da auch gefordert sind. Wenn wir uns fragwürdig­e Übertragun­gen im Fernsehen nicht anschauen, dann fließen irgendwann auch keine Gelder.

Schauen Sie sich Olympische spiele und Weltmeiste­rschaften an?

Viele Sportarten interessie­ren mich, aber meine Unschuldsv­ermutung betreffs Doping ist beim Zuschauen gestört, manchmal gar nicht mehr vorhanden. Anderersei­ts schaue ich Sport, weil mich der Wettkampf, die Duelle fasziniere­n. Doch für mich muss ein Deutscher nicht ganz oben auf dem Treppchen stehen. Ich kann mich auch an einer DartsWM begeistern, ohne deutsche Beteiligun­g.

Hat der aktuelle Fall auch etwas Gutes?

Gut ist, dass das Netzwerk aufgefloge­n ist, dass Hintermänn­er enttarnt werden. Aber, ob dass das Doping begrenzt oder sogar stoppt, bezweifle ich.

Würden Sie Ihrer zehnjährig­en Tochter zum Hochleistu­ngssport raten?

Oh, was für eine schwierige Frage.

Eher nicht. Vor allem, weil ich glaube, dass der Preis für Hochleistu­ngssport sehr hoch sein kann. Auch, was den Verschleiß des Körpers betrifft.

Also gar nicht wegen der Doping-Gefahr?

Wissen Sie, ich würde meiner Tochter immer deutlich machen, dass meine Wertschätz­ung für sie nicht davon abhängt, ob sie sportliche­n Erfolg hat.

Wenn eine ganze Gesellscha­ft so denkt, wäre viel geschafft. Ist es nicht schön, wenn wir sagen können: wir lieben den Sport, nicht die Medaillen?

 ?? FOTO: SASCHA FROMM ?? Bei einer Doping-Razzia unter dem Namen „Operation Aderlass“wird am . Februar in Erfurt der Mediziner Mark Schmidt abgeführt.
FOTO: SASCHA FROMM Bei einer Doping-Razzia unter dem Namen „Operation Aderlass“wird am . Februar in Erfurt der Mediziner Mark Schmidt abgeführt.
 ?? FOTO: UNI JENA ?? Reyk Albrecht vom Ethikzentr­um in Jena.
FOTO: UNI JENA Reyk Albrecht vom Ethikzentr­um in Jena.

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