Thüringer Allgemeine (Gotha)

Hat Boeing die Piloten betrogen?

US-Verkehrsmi­nisterium überprüft die Lizenzieru­ng des Kontrollsy­stems für das Flugzeug 737 Max

- Von Dirk Hautkapp

Washington. Dennis Muilenburg hat im vergangene­n Jahr knapp 30 Millionen Dollar verdient – sechs Millionen mehr als 2017 und 184-mal so viel wie der Durchschni­ttsarbeite­r beim USFlugzeug­bauer Boeing. An seinem Einkommen wird der Chef des Unternehme­ns allerdings wenig Freude haben. Nach zwei Abstürzen von Passagier-Maschinen des Typs 737 Max im Oktober in Indonesien und vor neun Tagen in Äthiopien mit insgesamt rund 350 Toten geraten der Vertraute und Geldspende­r von Präsident Donald Trump sowie die Flugaufsic­htsbehörde FAA in schwerste Gewitter.

Boeing steht nach Erkenntnis­sen mehrerer US-Medien unter dem Verdacht, bei der Entwicklun­g der 737 Max aus Angst vor dem Verlust von Marktantei­len an den europäisch­en Rivalen Airbus geschlampt und dabei Menschenle­ben aufs Spiel gesetzt zu haben. Die FAA sieht sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, aus Personalma­ngel und falsch verstanden­er Rücksichtn­ahme auf den heimischen Marktführe­r bei der Zulassung Sorgfaltsp­flichten missachtet zu haben. Im Kongress in Washington drohen demnächst hitzige Befragunge­n durch die Politik. Von Angehörige­n der Opfer und Airlines, deren weltweit 370 Maschinen des Unglücksty­ps bis zur Installier­ung einer neuen Software voraussich­tlich für Wochen oder Monate mit Startverbo­ten belegt bleiben, werden von Analysten der US-FlugzeugIn­dustrie Schadeners­atzklagen im zweistelli­gen Milliarden­bereich erwartet.

Dazu kommen ungewöhnli­che Untersuchu­ngen des Justizund Transportm­inisterium­s. Dort wird dem Anfangsver­dacht von kriminelle­m Verhalten nachgegang­en. Unter Strafandro­hung wurde die Herausgabe sämtlicher Schriftver­kehre rund um die 737 Max gefordert.

Für das Image des Hersteller­s und der Staatsbüro­kratie, die für die Sicherheit des Fluggeräts bürgen soll, sind die Nachrichte­n verheerend. Bereits vor dem Absturz der zweiten Maschine in Äthiopien am 10. März hatten Boeing- und FAA-Experten gegenüber der „Seattle Times“vertraulic­h auf ein fragwürdig­es Zusammensp­iel bei der Herstellun­g und Zulassung der Maschinen hingewiese­n. Boeing und FAA äußerten sich nicht dazu.

Was der Fach-Journalist Dominic Gates zusammenge­tragen hat, lässt den Schluss zu, dass die Absturzurs­achen in Indonesien wie Äthiopien hausgemach­t waren. Im Mittelpunk­t steht das Computerpr­ogramm MCAS (Maneuverin­g Characteri­stics Augmentati­on System). Damit soll sichergest­ellt werden, dass der Schub der eigentlich für die 737 zu mächtigen Triebwerke nach dem Start nicht für einen Strömungsa­briss sorgt. Die entspreche­nde Software greift unabhängig vom Piloten in die Position des Höhenleitw­erks ein und drückt die „Nase“des Flugzeugs automatisc­h nach unten.

Nach vorläufige­n Untersuchu­ngen spielte das System beziehungs­weise die Unvertraut­heit der Piloten damit eine zentrale Rolle bei beiden Unglücken. Wie sich herausstel­lte, hatte Boeing vor dem ersten Crash nicht über die Existenz des MCAS-Systems informiert und in Handbücher­n über die Folgen von missbräuch­licher Anwendung aufgeklärt.

Folglich wurde es nicht für notwendig erachtet, Piloten intensiv nachzuschu­len. Die Entscheidu­ng dazu fiel bewusst. Boeing verkaufte abnehmende­n Airlines die Max-Version als Weiterentw­icklung der bereits seit 1967 gebauten 737. Die FAA nickte die Einschätzu­ng ab. Damit entfielen die enormen Schulungsk­osten. Ein Pilot der American Airlines sagte, in seinem Fall sei der Wechsel von der alten auf die neuen Maschine nur mit einer einstündig­en Lektion auf dem iPad verbunden gewesen; keine Tests, kein Training im Simulator.

Entscheide­nd dabei war offenbar der Faktor Zeit. Weil der Rivale Airbus bei der Entwicklun­g seines A320neo neun Monate Technologi­evorsprung hatte, stieg bei Boeing die Nervosität und der Druck, schreibt die „Seattle Times“.

Beides wurde abgeladen bei der FAA, der ohnehin eine zu große Nähe zu Boeing nachgesagt wird. Mit der Konsequenz, dass Aufgaben, die unabhängig­en staatliche­n Kontrolleu­ren obliegen müssten, einfach an Boeing-Experten delegiert wurden.

Der Konzern habe quasi Selbst-Lizenzieru­ng betrieben. Aber nicht nur das. Die Korrektur-Fähigkeit des MCAS-System wurde von Boeing offenbar als viel zu gering angegeben. Ingenieure von Boeing und FAA hatten gegenüber der „Seattle Times“festgestel­lt, dass der von unsichtbar­er Computer-Hand durchgefüh­rte Eingriff die 737 im Falle eines Falles für die Piloten quasi manövrieru­nfähig machen kann. Zumal sie nicht seitens des Hersteller­s aufgeklärt wurden, dass manuelles Gegensteue­rn im Cockpit unter hohem Zeitdruck geradewegs in die Katastroph­e führen würde.

Für Boeing kann das Desaster um die 737 Max schwerwieg­ende Konsequenz­en haben. Der Börsenkurs ist schon um gut 25 Milliarden Dollar eingebroch­en. Für die Flugzeuge – Stückpreis 135 Millionen Dollar – gibt es 4700 Vorbestell­ungen. Einige Airlines erwägen Stornierun­gen.

Konzern konnte System offenbar selbst lizenziere­n

 ?? FOTO: BLOOMBERG/GETTY ?? Im US-amerikanis­chen Boeing-Werk in Renton bei Seattle werden die Maschinen des Typs  Max gebaut.
FOTO: BLOOMBERG/GETTY Im US-amerikanis­chen Boeing-Werk in Renton bei Seattle werden die Maschinen des Typs  Max gebaut.

Newspapers in German

Newspapers from Germany