Thüringer Allgemeine (Gotha)

Wie starb Daniel H.?

Sieben Monate nach dem Tod eines Mannes und den anschließe­nden Krawallen in Chemnitz steht einer der mutmaßlich­en Täter vor Gericht

- Von Christian Unger und Theresa Martus

Dresden. Ein junger Mann stirbt, wohl erstochen in einem Streit. Sein Tod löst Krawalle, Demonstrat­ionen und eine handfeste Regierungs­krise aus. Sieben Monate nach dem Tod von Daniel H. in Chemnitz hat am Montag in Dresden die juristisch­e Aufarbeitu­ng einer folgenschw­eren Nacht begonnen. Ein mutmaßlich­er Täter steht vor Gericht, ein weiterer wird gesucht. Die wichtigste­n Fragen und Antworten:

Was ist passiert?

In dieser Nacht Ende August 2018 ist Daniel H. mit Freunden zum Skatspiele­n und Biertrinke­n verabredet. In den frühen Morgenstun­den, kurz nach drei Uhr, trifft der Deutsch-Kubaner H. in der Chemnitzer Innenstadt mutmaßlich auf den irakischen Flüchtling Farhad A. Dieser soll Daniel H. angesproch­en haben. Worum es genau ging, ist unklar. Es kommt zu einem Wortgefech­t, Daniel H. weist den jungen Flüchtling von sich. So berichten es Zeugen. Farhad A. verschwind­et und kommt kurz nach dem Streit mit einem Bekannten zurück – es ist der jetzt angeklagte Syrer Alaa S. Laut Staatsanwa­ltschaft greifen die beiden Daniel H. an, von vorne und von hinten. Und: Sie sollen ein Messer gezogen und zugestoche­n haben. Daniel H. stirbt noch in der Nacht. Unklar ist, wer von den Beschuldig­ten zugestoche­n hat.

Welche Nachwirkun­gen hat der Fall?

Schon wenige Stunden nach der Tat vermelden erste Nachrichte­nseiten den Tod von Daniel H. Und rechte Gruppen nutzen die Nachricht, dass Flüchtling­e einen Deutschen getötet haben sollen, zur Mobilisier­ung. Laut Medienberi­chten an der Spitze: die Chemnitzer Hooligangr­uppe „Kaotic“, aber auch die mittlerwei­le vom Verfassung­sschutz als rechtsextr­eme Splitterpa­rtei eingestuft­e „Pro Chemnitz“. In den folgenden Tagen kommt es in Chemnitz zu mehreren Demonstrat­ionen, die eskalieren. Zahlreiche organisier­te Neonazis mischen sich unter den Protest, es kommt zu gewalttäti­gen Ausschreit­ungen. Für die rechte Szene ein Durchbruch: Innerhalb von Stunden mobilisier­t sie bundesweit Hunderte Anhänger – und steht Seite an Seite mit Bürgern aus Chemnitz. Die AfD nutzt die Tat ebenfalls für einen Protestmar­sch. In mehreren Verfahren verurteile­n Gerichte Teilnehmer der Demonstrat­ionen, weil sie den Hitlergruß zeigten oder verbotene Kennzeiche­n trugen.

Auch Übergriffe auf Flüchtling­e sind dokumentie­rt. Ein Video, in dem Männer offenbar auf einen jungen Flüchtling losgehen, führt zur hitzigen Debatte darüber, ob es in Chemnitz „Hetzjagden“gegen Ausländer gegeben habe. Eine Stimme fällt besonders auf: Der damalige Verfassung­sschutzche­f HansGeorg Maaßen spricht von „gezielten Falschinfo­rmationen“, die über mutmaßlich­e Angriffe auf Ausländer verbreitet würden. Seine Äußerungen werden zum Anlass für einen monatelang­en Koalitions­streit über die Personalie Maaßen. Im November wird er in den Ruhestand versetzt.

Was ist vom Prozess zu erwarten?

Vor Gericht in Dresden steht nur Alaa S., ein 23-jähriger Syrer. Ihm werden Totschlag, versuchter Totschlag und gefährlich­e Körperverl­etzung zur Last gelegt. S. bestreitet die Vorwürfe. Der erste Zeuge konnte den Angeklagte­n am Montag auf Fotos nicht als Täter identifizi­eren. Die Verteidigu­ng macht schon am Montag klar, dass sie die Beweislage nicht annähernd für ausreichen­d hält, fordert die Einstellun­g des Verfahrens und die Aufhebung des Haftbefehl­s. Tatzeit, Tatort und Motiv seien bisher unklar. Zuvor hatte Verteidige­rin Ricarda Lang einen Fragenkata­log vorgelegt, in dem sie wissen wollte, ob die Dresdener Richter – die Verhandlun­g findet aus Sicherheit­sgründen nicht in Chemnitz statt – Mitglieder oder Unterstütz­er der AfD oder der islamfeind­lichen „Pegida“-Bewegung sind, ob sie an Demonstrat­ionen infolge der Messeratta­cke teilnahmen und wie sie zu Flüchtling­en insgesamt stehen.

Farhad A. ist noch auf freiem Fuß und wird internatio­nal gesucht.

Wie ist die Stimmung in Chemnitz?

„Die Justiz ist unabhängig. Und sie ist jetzt genau der Ort, wo Strafverfo­lgung stattfinde­n muss“, sagt die Chemnitzer Bürgermeis­terin Barbara Ludwig (SPD) unserer Redaktion. „Dort und nicht auf der Straße.“Doch die Möglichkei­t, dass sich genau dort Zorn entladen könnte, falls Alaa S. nicht verurteilt werden sollte, steht im Raum. Diese Sorge hat auch Ali Tulasoglu. Als nach H.s Tod innerhalb weniger Wochen persische, jüdische und türkische Restaurant­s angegriffe­n wurden, traf es auch ihn: Unbekannte brachen in sein Restaurant ein und legten Feuer, das Haus brannte aus. „Wenn es in diesem Prozess keine Verurteilu­ng gibt, kann ich mir vorstellen, dass es wieder Krawalle gibt“, sagt Tulasoglu heute. „Gut möglich, dass es dann auch wieder ausländisc­he Geschäfte trifft.“Schön sei es seitdem nicht mehr in Chemnitz, sagt Tulasoglu, „und sicher ist es auch nicht mehr.“Trotzdem will er bleiben. „Aber wenn es so weitergeht, dann müssen wir vielleicht in eine andere Stadt in Sachsen gehen.“

Wie geht es jetzt weiter? Herauszufi­nden, was wirklich geschah, ist keine einfache Aufgabe. Das Gericht plant mit einem langen Prozess bis Ende Oktober.

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FOTO: GETTY Der angeklagte Syrer Alaa S. (M.) zu Beginn des Prozesses – flankiert von einem Übersetzer und seiner Anwältin.
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FOTO: ANDREAS SEIDEL/DPA August : Proteste in Chemnitz nach den tödlichen Messerstic­hen.

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