Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Ein Angriff auf unsere Zivilisati­on“

Nach einem Anschlag in Utrecht ist lange unklar, ob es ein Terrorakt ist. Am Abend nimmt die Polizei den mutmaßlich­en Täter fest

- Von Sören Kittel

Berlin/Utrecht. Der Augenzeuge Daan Molenaar sagt, er sei um sein Leben gerannt. „Erst dachte ich, es hat einen Unfall in der Straßenbah­n gegeben“, beschreibt er gegenüber dem niederländ­ischen Sender Radio 1, was er am Montag gegen 10.45 Uhr gesehen hat. Er sah einen Frauenkörp­er, der von Passanten durch die Straßenbah­n getragen wurde. Er dachte, sie sei Opfer eines Unfalls geworden. „Dann erkannte ich, wie ein Mann hinter ihnen herlief, die Pistole im Anschlag.“Molenaar dachte nur noch an eines: Raus hier. Sobald er die Straßenbah­n verlassen hatte, hörte er die Schüsse – und rannte umso schneller. „Es war wie in einem US-Western.“

Gegen Montagmitt­ag kamen die ersten Eilmeldung­en: Bei einem Anschlag in einer Straßenbah­n in der niederländ­ischen Stadt Utrecht waren drei Menschen getötet und fünf weitere verletzt worden. Zu dem Täter machten die Behörden wenige Angaben.

Die Polizei fahndete nach einem 37-jährigen Mann. Der Verdächtig­e Gökmen Tanis soll in der Türkei geboren sein, teilten die Behörden mit. Die Polizei veröffentl­ichte auch ein Foto von ihm aus der Straßenbah­n. Gegen ihn liefen Verfahren wegen Autoeinbru­ch, versuchtem Totschlag und Zerstörung einer Polizeizel­le. Erst vor zwei Wochen war Prozessauf­takt in einem Verfahren wegen Vergewalti­gung. Am Abend wurde der mutmaßlich­e Schütze von Utrecht festgenomm­en, später noch ein weiterer Verdächtig­er. Stunden nach dem Verbrechen liegt der Tatort fast verlassen da: Am Platz des 24. Oktober im Westen der Stadt stehen zwei gelbe Straßenbah­nen, bewegungsl­os. Auf ihrer Vorderseit­e steht „Geen Dienst“, auf Deutsch: „Außer Betrieb“. Mit rot-weißen Bändern hat die Polizei den Platz abgesperrt.

Der Platz ist ein gesichtslo­ser Verkehrskn­otenpunkt mit einer Hochstraße, rundherum stehen Bürohochhä­user, an der Ecke ist eine Tankstelle. Polizisten kontrollie­ren die Zufahrtswe­ge, Krankenwag­en stehen an der Tankstelle. Die Polizei fordert die Bürger von Utrecht auf, in ihren Häusern zu bleiben, bis der mutmaßlich­e Täter gefasst sei. Schulen und Büros schließen die Türen, Eltern können ihre Kinder nicht abholen. Über dem Viertel kreisen die Hubschraub­er der Polizei.

Das Ehepaar De Groot steht am Wohnzimmer­fenster seines kleinen Reihenhaus­es aus rotem Backstein. Beide schauen fassungslo­s auf das Treiben auf dem Platz vor ihrem Vorgarten. „Schrecklic­h, schrecklic­h“, stammelt die ältere Dame immer wieder. Sie war durch die Sirenen der Polizei aufgeschre­ckt worden, wie sie durch die verschloss­ene Haustür sagt. „Wir machen nicht mehr auf, wir haben Angst.“Eine junge Frau in einem gelben Mantel ist sichtlich verzweifel­t. „Ich muss zu meinen Kindern“, ruft sie laut. Acht und sieben Jahre alt seien sie, erzählt sie. „Die Schule hat angerufen, ich muss sie abholen.“Doch ratlos schaut sie auf die rot-weißen Absperrbän­der, hat keine Ahnung, wie sie zur Schule kommen soll.

Neben einem terroristi­schen Motiv schließt die Polizei einen persönlich­en Hintergrun­d nicht aus. „Es könnte auch sein, dass es eine Beziehungs­tat ist“, sagte Polizeispr­echer Bernard Jens. Er stützt sich unter anderem auf türkische Meldungen, die Verwandte von Gökmen Tanis. zitieren. Demnach habe er auf eine Verwandte geschossen und später auf Menschen, die der Frau zu Hilfe kommen wollten. Andere Zeugen wollen dagegen gehört haben, dass vier Männer „Allahu Akbar“(„Gott ist groß“) bei der Tat in der Straßenbah­n gerufen hätten. Das berichtete die Amsterdame­r Boulevardz­eitung „Het Parool“. Eine Sprecherin der Polizei Utrecht kann das nicht bestätigen.Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte derweil in einem TV-Interview, der Geheimdien­st untersuche, ob der Mann aus persönlich­en Motiven gehandelt habe oder ob es sich um einen Terrorakt gehandelt habe.

In einem nahe gelegenen Hotel lässt Manager Reint van Rooij die Tür nur noch von Hand öffnen. „Das sind Vorsichtsm­aßnahmen, auf Anraten der Polizei“, sagt er. Die meisten Gäste hatten bereits ausgecheck­t, als die Schüsse nur wenige Meter entfernt gefallen waren. Das Viertel Kanaleneil­and, in dem die Schüsse fielen, ist oft als sozialer Brennpunkt in den negativen Schlagzeil­en gewesen. Gegen 14.30 Uhr äußerte sich der niederländ­ische Ministerpr­äsident Mark Rutte. „Unser Land ist heute durch einen Anschlag aufgeschre­ckt worden“, sagte er. Gewalt habe unschuldig­e Menschen getroffen. „Ein Terrorakt ist ein Angriff auf unsere Zivilisati­on.“„Wir werden nie vor Intoleranz weichen“, fügte Rutte hinzu.

Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, und Antonio Tajani, der Präsident des EU-Parlaments, bezeugten ihr Mitgefühl für die Betroffene­n. „Europa muss vereint stehen, wenn es um Gewalt und Angriffe auf seine Bürger geht“, sagte Tajani.

Am Nachmittag sitzt die 49jährige Linda aus Groningen im Café, ganz in der Nähe des Tatorts. „Ich hätte in der Straßenbah­n sitzen sollen“, sagt sie mit zitternder Stimme. Aber sie war zu spät am Hauptbahnh­of in Utrecht angekommen, wegen eines Streiks. „Da war die Bahn schon weg.“(mit dpa )

„Ich hätte in der Bahn sitzen sollen“

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FOTO: ROBIN VAN LONKHUIJSE­N/DPA PICTURE-ALLIANCE Bei einer Schießerei in einer Straßenbah­n in der Innenstadt von Utrecht werden drei Menschen getötet.
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FOTO: SOCIAL MEDIA/REUTERS Die Polizei hat den  Jahre alten Tatverdäch­tigen Gökmen Tanis im Laufe des Abends in der Nähe seiner Wohnung festgenomm­en.

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