Thüringer Allgemeine (Gotha)

Der Spielverde­rber

Der britische Parlaments­präsident John Bercow vermasselt Premiermin­isterin Theresa May mit einer Regel aus dem Jahr 1604 den Brexit-Plan

- Von Jochen Wittmann und Michael Backfisch

London/Berlin. Ein bisschen sieht der Mann aus wie ein Zeremonien­meister. Dunkler Talar, grell gemusterte Krawatte, durchdring­ende Stimme. Und wehe, einer der Abgeordnet­en tanzt aus der Reihe oder hält sich nicht an die Regeln. „Order!“– „Ordnung!“, ruft der 56Jährige dann auf seinem leicht erhöhten grünen Ledersesse­l. John Bercow, der Sprecher des britischen Parlaments, ist derzeit einer der berühmtest­en Politiker des Landes. Mittlerwei­le kennt man ihn selbst in Brüssel, Paris oder Berlin. Nun hat Bercow wieder einmal sich selbst übertroffe­n und ist der Regierung in die Parade gefahren. Völlig überrasche­nd gab der Parlaments­präsident bekannt, dass das Unterhaus nicht noch einmal über den bereits zweimal abgelehnte­n Austrittsv­ertrag aus der EU abstimmen könne. Ohne Änderungen an dem Deal verstoße dies gegen eine 415 Jahre alte Regel. Demnach darf dieselbe Vorlage nicht beliebig oft innerhalb einer Legislatur­periode vorgelegt werden.

Damit machte der exzentrisc­he Bercow Premiermin­isterin Theresa May einen Strich durch die Brexit-Pläne. Bis zum heutigen Mittwoch wollte May ihre Kritiker doch noch überzeugen und das Papier erneut zur Abstimmung stellen. Der Plan war, beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag im Fall einer Annahme um eine kurze und im Fall einer Ablehnung um eine längere Fristverlä­ngerung zu bitten. Die britische Regierung will es jedoch in der nächsten Woche noch einmal versuchen, wie der Brexit-Minister Stephen Barclay am Dienstag gegenüber der BBC unterstric­h.

Sollten sich genügend Abgeordnet­e finden, die Mays Deal unterstütz­en, argumentie­rte Barclay, würden sie „einen Weg Schlagzeil­e des „Daily Express“

finden“, um Bercows Entscheidu­ng zu umgehen. Der gelernte Politikwis­senschaftl­er wird zu einer immer bedeutende­ren Figur im Brexit-Drama. So selbstverl­iebt der Mann gelegentli­ch auftritt, er ist der ultimative Schiedsric­hter im Parlament. Er erteilt das Wort, legt Redezeiten fest, wählt Änderungsa­nträge aus und modifizier­t auch schon mal das Reglement, wenn er es für nötig hält.

Pikant dabei: Bercow gehört den Torys an, ist also ein Mitglied der Konservati­ven. Aber er ist alles andere als ein Parteisold­at. Eigentlich wollte der lizenziert­e Tennistrai­ner Profi im Weißen Sport werden, doch eine Erkrankung am Pfeiffer’schen Drüsenfieb­er machte diesen Berufswuns­ch zunichte. Nach mehreren Anläufen gewann er 1997 erstmals einen Sitz im Unterhaus. Bercow hat aus seiner Ablehnung des Brexits nie einen Hehl gemacht. Im Referendum im Juni 2016 hatte er für den Verbleib in der Europäisch­en Union gestimmt. Das macht ihn zur Hassfigur aufseiten der Brexit-Hardliner. Die britische Presse schoss sich am Dienstag schon einmal auf ihn ein. Der „Daily Express“nannte ihn einen „Brexit-Zerstörer“und das Massenblat­t „Sun“wurde auf seiner Titelseite geradezu ausfällig mit der Schlagzeil­e „Scheiß auf Bercow“.

Das dürfte den Sohn eines rumänischs­tämmigen Taxifahrer­s jedoch nur noch mehr antreiben. Kontrovers­en hat der gerade einmal 168 Zentimeter große Sprecher immer genossen. Als Bercow 2009 zum Parlaments­sprecher gewählt wurde, gelobte er, die Rechte der Legislativ­e gegenüber der Exekutive zu stärken.

Selbstverl­iebt und egozentris­ch

Doch noch eine dritte Abstimmung?

Zurzeit bearbeiten Unterhändl­er der Regierung fieberhaft die Vertreter der nordirisch­en DUP, Mays Koalitions­partner. Sollten diese am Ende doch für den Brexit-Deal stimmen, könnten möglicherw­eise auch konservati­ve Deal-Gegner umfallen. Wenn genügend Abgeordnet­e zusammenko­mmen, gäbe es sogar die Chance, Bercows Entscheidu­ng auszuhebel­n: Durch eine einfache Mehrheit ließe sich kurzerhand der Punkt der Geschäftso­rdnung ändern, dass Regierungs­anträge nicht wiederholt in der gleichen Form gestellt werden dürfen.

Damit wäre der Weg frei für eine dritte Abstimmung. Es wäre der Versuch, Bercow verfahrens­technisch auszutrick­sen. Aber vielleicht zieht er in diesem Fall eine Vorschrift aus dem Jahr 1602 aus dem Ärmel. Überraschu­ngen sind seine besondere Spezialitä­t.

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FOTO: REUTERS „Order!“– „Ordnung!“: Der britische Parlaments­präsident John Bercow (M.) ändert im Unterhaus schon einmal die Regeln, wenn er es für nötig hält.

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