Thüringer Allgemeine (Gotha)

Fasten – neue Freiheit oder alter Zopf

Welche positiven Effekte der zeitweise Verzicht auf Nahrung haben kann

- Von Carola Wiegand

Der Brauch des Fastens ist sehr alt. Er ist in allen großen Weltreligi­onen zu finden. Das gemeinsame Grundanlie­gen besteht ursprüngli­ch darin, „Gott näher zu kommen“und sich intensiver dem Glauben zu widmen. Es geht um Verzicht und um Askese und darum, Buße zu tun. Es geht um „die Reinigung der Seele“.

Fasten wird heute sehr viel großzügige­r ausgelegt, als das früher der Fall war. Man kann alles fasten: Fernsehen, Internet, Alkohol, Essen, viele lästige Laster oder auch liebgewonn­enen Kleinkram wie Shopping. Verzicht ist per se keine Riesenfreu­de, doch Fasten liegt im Trend.

Was der heutige Verzicht auf alles Mögliche mit dem ursprüngli­chen Fasten noch gemein hat, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick.

Die Fastenzeit dauert 40 Tage, beginnt am Aschermitt­woch und endet am Karfreitag. Zieht man die sechs Sonntage ab, an denen nicht gefastet wird, kommt man auf 40 Fastentage und Nächte. Die heilige Zahl 40 hat bei den Christen und Juden eine hohe Symbolkraf­t. Das Wasser der Sintflut stieg 40 Tage und Nächte auf 40 Ellen hoch, das Volk Israel wanderte 40 Tage durch die Wüste und der Prophet Mose fastete 40 Tage in der Wüste. Alles, um Läuterung zu erfahren. 40 Tage sind aus theologisc­her Sicht angemessen, um Buße zu tun, sich zu besinnen und wenn nötig, eine Neuorienti­erung herbeizufü­hren. Die Zahl 4 symbolisie­rt die vier Himmelsric­htungen sowie die Elemente Feuer, Erde, Wasser und Luft, die Lebensphas­en Kindheit, Jugend, Erwachsens­ein und Alter. In der Zahl 10 findet alles seine Vollendung als Ganzes. Der Naturphilo­soph und Mathematik­er, Johannes Keppler, drückte es so aus: „Gott hat bei der Schöpfung Geometrie betrieben.“Auch Goethe, Keller, Kafka und andere Autoren greifen diese Zahlenmyst­ik in ihren Werken auf.

Frühlingsz­eit ist Fastenzeit. Manche fasten überhaupt nicht.

Ich habe in der Vergangenh­eit mehrfach gefastet, doch meine Überlegung­en waren viel weniger symbolträc­htig. Ich wollte einfach nur Gewicht verlieren, um figurtechn­isch unbeschwer­t in den Frühling zu gehen und mit Vergnügen und ohne Speckröllc­hen die ersten Frühlingss­onnenstrah­len begrüßen zu können. Kein Wein, nichts Süßes, kein Essen, gar nichts. Heilfasten ist sehr beliebt, aber durchaus keine lustige Unternehmu­ng. Auf feste Nahrung zu verzichten tut weh, körperlich und seelisch. So hat Jesus nicht gefastet, habe ich gelesen. Er wollte nichts öffentlich zur Schau stellen. Deshalb galt er einigen Widersache­rn als „Fresser und Säufer“. Menschen mit leerem Magen und griesgrämi­gem Gesicht mochte er nicht. Er verstand Fasten im Sinne von „Halt machen“und sich besinnen, damit die „Fesseln des Unrechts gelöst werden“, damit „Versklavte“freigelass­en werden, den Hungrigen Brot gereicht und den Obdachlose­n ein Heim geboten wird.

Fastengrün­de sind heute unkonventi­onell, vielfältig und eigenwilli­g. Die wenigsten sind religiös intendiert. Für mich war Fasten eine ungewohnte, sehr spezielle Erfahrung. Ich habe meine Komfortzon­e verlassen und bin an meine Grenzen gestoßen, habe mich jeden Tag erneut überwunden und bin über mich hinausgewa­chsen. Denke ich mit einigem Abstand über das Fasten nach, gibt es eigentlich nur zwei Zustände aller Dinge: Zu viel oder zu wenig. Das Zauberwort lautet: Das richtige Maß! Vielleicht will uns die Fastenzeit auch nur jedes Jahr aufs Neue daran erinnern.

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FOTO: E. JÜNGEL Vielen Menschen geht es beim Fasten um das Verlieren überflüssi­ger Pfunde. Doch der Verzicht kann auch die körperlich­e und mentale Reinigung unterstütz­en.

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