Thüringer Allgemeine (Gotha)

Wo Mindestloh­n unterlaufe­n wird

Zahl der aufgedeckt­en Verstöße und eingeleite­ten Verfahren seit 2015 mehr als vervierfac­ht

- Von Tim Braune und Philipp Neumann

Berlin. Der im Jahr 2015 eingeführt­e Mindestloh­n gilt in der Politik als Erfolgsges­chichte – aber was sagen Zimmermädc­hen, Friseurinn­en, Bauarbeite­r oder Fleischer, die in der Praxis oft auf Druck ihrer Arbeitgebe­r viele Stunden extra schuften und von einer Bezahlung, wie sie im Gesetz steht, weit entfernt sind? In Speditione­n, in der Landwirtsc­haft oder in Pflegeheim­en wird die Auszahlung des Mindestloh­ns und von Branchen-Mindestlöh­nen viel zu selten kontrollie­rt, weil der Zoll überforder­t ist. Viele Arbeitnehm­er werden so um Lohn geprellt, dem Staat entgehen Einnahmen aus Steuern und Sozialabga­ben.

Dass der Mindestloh­n in Deutschlan­d massenhaft unterlaufe­n wird, belegen neue Zahlen, die die zuständige Spezialein­heit Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit (FKS) des Zolls für das Jahr 2018 zusammenge­stellt hat. Die Daten liegen unserer Redaktion vor. Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) will sie am Montag bei der Jahresbila­nz des Zolls präsentier­en.

Handelt es sich beim Mindestloh­n-Betrug um Einzelfäll­e? Absolut nicht. Wie die Statistik des Zolls zeigt, werden unter anderem die Auszahlung des Mindestloh­ns, die korrekte Aufzeichnu­ng von Arbeitsstu­nden und das vorgeschri­ebene Bereithalt­en von Unter-lagen flächendec­kend in vielen Branchen unterlaufe­n. So stieg die Zahl der Ordnungswi­drigkeitsv­erfahren nach dem Mindestloh­ngesetz von 1316 Fällen im Jahr 2015 auf 6220 Fälle im Jahr 2018 – obwohl weniger kontrollie­rt wurde.

Wie groß ist der Schaden? Allein die aufgedeckt­en Verstöße gegen Lohnansprü­che oder Abgaben im Rahmen von verbindlic­hen Tarifvertr­ägen verursacht­en 2018 einen Schaden von knapp 32 Millionen Euro. Die Summe der verhängten Verwarnung­sgelder und Geldbußen betrug 20,4 Millionen Euro.

Welche Branchen sind betroffen?

Im Baugewerbe wurden 2018 rund 1150 Verfahren neu eingeleite­t und knapp 1300 laufende Verfahren abgeschlos­sen. Das Unterlaufe­n von Mindestloh­nvorgaben sorgte für einen Schaden von mehr als 16 Millionen Euro, die Geldbußen lagen bei 14,5 Millionen Euro. Bei der Gebäuderei­nigung erreichte der Schaden 4,5 Millionen Euro, gegen betroffene Firmen wurden Strafen von knapp einer Million Euro verhängt.

Wie oft kontrollie­rt der Zoll Arbeitgebe­r?

Das Risiko für Arbeitgebe­r, erwischt zu werden, ist gering. Führten Zöllner 2014 – im Jahr vor der Einführung des gesetzlich­en Mindestloh­ns – noch 63.000 Arbeitgebe­rprüfungen durch, waren es 2018 rund 53.500. Dahinter steckt offiziell eine neue Strategie des Zolls. Weniger prüfen, dafür effektiver, stärkerer Fokus auf Problembra­nchen.

Ist das nicht Augenwisch­erei, um Personalno­t zu verdecken? Kürzlich musste die Bundesregi­erung auf Anfrage der Linken einräumen, dass die Zahl der durch die FKS geprüften Betriebe verschwind­end gering ist. Im Jahr 2017 wurden nur 2,4 Prozent aller Betriebe kontrollie­rt. Am Bau wurden im Jahr 2018 gut 13.000 Arbeitgebe­r überprüft – bei zwei Millionen Beschäftig­ten in der Branche. „Alle 40 Jahre müssen Arbeitgebe­r in Deutschlan­d mit einer Kontrolle rechnen – eine offene Einladung zum Rechtsbruc­h“, sagt Susanne Ferschl, Vizefrakti­onschefin der Linken im Bundestag. Experten und Gewerkscha­ften kritisiere­n seit Langem, dass der Zoll zu wenig Personal hat. Fragwürdig sei, dass bundesweit­e Großrazzie­n angekündig­t würden. Der Zoll argumentie­rt, dies schrecke Arbeitgebe­r ab, die Mindestloh­ngesetze aus Profitgrün­den zu unterlaufe­n.

Wie viele Arbeitnehm­er werden um Mindestloh­n geprellt? Es gibt nur Schätzunge­n. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung zeigte, dass der Mindestloh­n zu einer starken Steigerung niedriger Löhne geführt hat, aber längst nicht alle mit Anspruch ihn auch bekommen. So hätten 2016 rund 1,8 Millionen anspruchsb­erechtigte Personen gemessen an ihrer vertraglic­hen Arbeitszei­t unter 8,50 Euro brutto pro Stunde verdient, dem damaligen Niveau des Mindestloh­ns.

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FOTO: DPA PA Auch am Bau werden Mindestloh­nvorgaben häufig unterlaufe­n.  entstand dadurch ein Schaden von mehr als  Millionen Euro.

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