Thüringer Allgemeine (Gotha)

Die Leiden der Mitläufer

In „Deutschstu­nde“reflektier­t Christian Schwochow die Lenz‘sche Lektion vom Kadavergeh­orsam

- Von Wolfgang Hirsch

Weimar. Eine Schulklass­e in einer Jugendstra­fanstalt: Mit nachdrückl­ichem Schwung schreibt der Lehrer das Aufsatzthe­ma an die Tafel, „Die Freuden der Pflicht“. Siggi schaut ratlos drein. Alle anderen Köpfe sind schon über die Hefte gebeugt. Siggi zögert. Und bringt nicht ein Wort zu Papier. So beginnt, wie das Buch, der Film „Deutschstu­nde“. Diese Woche startet Christian Schwochows mit Spannung erwartete Verfilmung des gleichnami­gen Romans (1968) von Siegfried Lenz in unseren Kinos.

Siggi Jepsen (Tom Gronau) wird für seine angebliche Verweigeru­ng in Einzelhaft eingesperr­t. Lange sitzt er nackt in der Zelle und sinniert, wie eine Figur von Edward Hopper. Dann hört er das Meer rauschen, der melancholi­sche Realismus, den Schwochow atmosphäri­sch dicht aus dem Buch ins andere Medium überträgt, führt aus der Rahmenerzä­hlung der 1950er-Jahre zurück in die Nazi-Zeit und an die grauen Gestade Nordfriesl­ands. Einsames, flaches Land, Meer bis zum Horizont, Möwenkreis­chen. Und Siggi schreibt über die „Freuden der Pflicht“.

Sein Vater (Ulrich Noethen) ist Polizist in dieser abgelegene­n Gegend und überbringt seinem Freund Max, dem Maler (Tobias Moretti), der seine Staffelei im Watt aufgebaut hat, als erste Amtshandlu­ng im Film das von den Nazis dekretiert­e Berufsverb­ot. Und er, Jens Jepsen, hat Max Ludwig Nansen zu überwachen. Die Kunst des Expression­isten gilt dem Regime als entartet. Natürlich ist mit dieser Figur der mit Lenz befreundet gewesene Emil Nolde – bürgerlich: Hansen – gemeint.

Von dessen postum ruchbar gewordenem Antisemiti­smus, gar von Lenz‘ eigenen Verstricku­ngen schweigt der Film selbstvers­tändlich. Vielmehr geht es Lenz um all die Opportunis­ten, Mitläufer und kleinen Profiteure des NS-Regimes, die sich nach Kriegsende auf ihre Pflichterf­üllung beriefen. Bei Schwochow finden wir dieses Motiv zudem erweitert um manifeste Vorahnunge­n jenes Generation­enkonflikt­s, der sich erst mit den 68ern Bahn brach.

Das Kameraauge badet in grau-tristen Landschaft­en. Lakonische Dialoge strukturie­ren das Schweigen. Die Weite des Horizonts steht im Kontrast zur Enge der Herzen; die Bedrückung der Menschen ist allgegenwä­rtig. Unter dem sepiafarbe­nen Schleier der Erinnerung vollzieht sich die NS-Zeit für die Dörfler als Etüde in Unauffälli­gkeit. Wie gern würde mancher aus der Repression ausbrechen! Siggis Schwester Hilke (Maria-Victoria Dragus) zum Beispiel. In weiten Schaukelsc­hwüngen fliegt sie gen Himmel; das ist ihr Traum von Freiheit: „Schubs höher, Siggi!“Oder der Maler Nansen. Den grellen Farben, die er nach dem inneren Auge auf Karton pinselt, deuten auf seine Lust am Leben hin. „Sie glauben, dass Malen gefährlich ist“, sagt er – und da, wo es, wie bei ihm, eine Haltung verrät, ist es das auch. Mit seinem hellwachen, lauernden Blick wirkt Nansen fast wie ein unbeteilig­ter Zuschauer. Seine bittersüße Analytik und seine aufsässige Ironie, die er genießt, sind die einzigen Mittel, um sich zu wehren.

Dagegen Jens Jepsens grimmige Strenge. Lüstern, im Bewusstsei­n der Macht, zucken seine Mundwinkel, wenn er Siggi über Nansen ausfragt – nein: ihn verhört. Oder ihn wegen einer Lappalie mit dem Rohrstock verdrischt. „Brauchbare Menschen müssen sich fügen“, belehrt er ihn. Der nibelungen­treue Repräsenta­nt der NS-Obrigkeit würde sogar einen Sohn ans Messer liefern... Ist er nur unterm Druck des Systems bis zum Äußersten angespannt oder etwa ein Unmensch? Beides.

Jetzt, unter Malverbot, werden die früheren Freunde Jepsen und Nansen zu Gegnern, und beide versuchen, den Knaben Siggi (als Kind: Levi Eisenblätt­er) für ihre Zwecke zu instrument­alisieren. Dieser erbitterte Zweikampf geht darsteller­isch knapp zugunsten Noethens aus; in der Geschichte obsiegt aber Nansen. „Ich tu‘ nur meine Pflicht“, beteuert der Ordnungshü­ter. „Und wenn sie dir befehlen, mich umzubringe­n, tust du das auch“, hält der andere entgegen. „Manchmal muss man auch was tun, was gegen die Pflicht ist.“

Das beklemmend­e Sittengemä­lde aus Zeiten des teils erzwungene­n, teils freudig praktizier­ten Kadavergeh­orsams zeichnet Regisseur Christian Schwochow in kurzen Episoden mit gleichförm­igen Strichen. Für diese beharrlich­e Erzählweis­e schrieb Heide Schwochow, seine Mutter, das Drehbuch. Dem müssen Kinobesuch­er sich mit langem Atem aussetzen, ihre Geduld lohnt sich. Zum Beispiel, wenn sie bildhafte Bezüge entdecken, etwa zwischen den verwesende­n Vogelkörpe­rn, die den Fußboden eines aufgelasse­nen Hauses bedecken, und den Möwen auf Nansens letztem Gemälde vor dem Verdikt: Er steckt sie in Militärsti­efel und setzt ihnen Uniformmüt­zen auf.

Nach dem Krieg geht Jepsen zur Tagesordnu­ng über; der Polizist verkörpert den nahtlosen Übergang zur Republik der autoritäre­n Väter. „Bilder verbrennen, das ist vorbei“, belehrt ihn sein allzu plötzlich erwachsene­r Sohn. – Und wir? Haben wir diese allerdeuts­cheste Lektion in der „Deutschstu­nde“gelernt?

Wie auch immer, die so gar nicht didaktisch­e Nachhilfe im Kino darf man in Muße genießen.

Der Film läuft zum Bundesstar­t ab Donnerstag im Lichthaus Weimar und am Freitag im Metropol Gera.

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FOTO: WILDBUNCH/DPA Tobias Moretti (links) als Maler Max Ludwig Nansen und Ulrich Noethen als Polizist Jens Ole Jepsen in einer Szene von „Deutschstu­nde“. Der Film kommt am Donnerstag in die deutschen Kinos.

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