Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Nahrungsmi­ttel sind bei uns erstaunlic­h billig“

Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil über den Niedergang der SPD – und was die Politik für die protestier­enden Bauern tun soll

- Von Tim Braune und Jochen Gaugele

Berlin. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Vertreter der großen Einzelhand­elsketten für diesen Montag zu einem Spitzentre­ffen eingeladen. Thema: Was sollen Fleisch und Gemüse kosten? Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil warnt im Interview davor, den Bauern die Existenzgr­undlage zu nehmen. Für seine kriselnde Partei hat der SPD-Politiker einen ganz besonderen Rat.

Sie haben lange offengelas­sen, ob Sie für den SPD-Vorsitz kandidiere­n – und dann verzichtet. Sind Sie mit Ihrer Entscheidu­ng im Reinen, Herr Weil?

Stephan Weil: Ich bin mit mir sehr im Reinen.

Mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans an der Spitze verharrt die SPD in den Umfragen unter 15 Prozent. Kommt es noch zum Eskabo-Effekt?

Ich halte es für falsch, Umfragewer­te immer gleich mit dem Spitzenper­sonal in Verbindung zu bringen – erst recht, wenn die Parteiführ­ung neu ist. Die beiden Vorsitzend­en müssen die Chance haben, im Amt anzukommen und die entspreche­nden Weichen zu stellen. Der Niedergang der SPD hat tiefgehend­ere Ursachen. Wir müssen sehr viel klarer herausarbe­iten, welchen Mehrwert wir Sozialdemo­kraten für die Gesellscha­ft haben. Das ist uns in der Vergangenh­eit nicht gut genug gelungen.

Stellt die SPD zur nächsten Bundestags­wahl in jedem Fall einen Kanzlerkan­didaten auf? Oder gibt es dafür eine Untergrenz­e in den Umfragen?

Für mich gibt es da keine Untergrenz­e. Die SPD muss eine Volksparte­i bleiben, also für die gesamte Gesellscha­ft ein gutes Angebot haben. Wir sollten uns jetzt mal eine Phase gönnen, in der wir über inhaltlich­e Politik reden – und nicht permanent über Personen wie im vergangene­n Jahr.

Was kann die SPD vom Höhenflug der Grünen lernen?

Dass personelle Geschlosse­nheit und gute Laune die Chancen verbessern. Die SPD muss Selbstbewu­sstsein ausstrahle­n und Freude auf die Zukunft vermitteln. Wenn uns das gelingt, werden wir auch wieder mehr Erfolg haben. Die Grünen haben das in letzter Zeit insoweit gut gemacht, davon können wir lernen. Politisch muss meine Partei aber ihren eigenen Weg gehen. Niemand braucht eine SPD, die grüner als die Grünen und linker als die Linke ist.

Was bedeutet das konkret – etwa in der Agrarpolit­ik? Verstehen Sie den Protest der Bauern gegen immer neue Umwelt-Auflagen?

Ich habe viel mit den Bauern diskutiert und weiß, was sie im Kern bewegt: Die Gesellscha­ft erwartet zu Recht deutlich mehr Anstrengun­gen bei Umweltschu­tz, Artenschut­z, Gewässersc­hutz, Klimaschut­z, Verbrauche­rschutz, Tierschutz. Und die Bauern fragen sich, wie sie das alles schaffen sollen. Ich halte es für einen großen Fehler, dass Landwirtsc­haftsminis­terin Klöckner dieser Diskussion aus dem Weg geht. Wir brauchen dringend einen runden Tisch, an dem Politik, Landwirtsc­haft und Umweltschu­tz sitzen und verlässlic­he Perspektiv­en für eine nachhaltig­e Landwirtsc­haft entwickeln. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass Tausende kleinere und mittlere landwirtsc­haftliche Betriebe in Deutschlan­d verschwind­en – und das Fleisch und die Eier, die wir danach essen, aus der Ukraine kommen.

Wie viel Fleisch essen Sie selbst?

Deutlich weniger als früher. Zum Essen bin ich leider nicht so oft zu

Hause. Aber meine Frau kauft nur noch auf dem Stadtteilb­auernmarkt. Bei uns gibt es weniger, aber besseres Fleisch als früher. Ganz wichtig ist: Mehr Leistung muss auch besser bezahlt werden. Anders bekommen die Bauern das nicht hin. Wenn sie die Haltebedin­gungen für ihre Tiere verbessern wollen, müssen sie viel investiere­n. Und wenn gleichzeit­ig die großen Einzelhand­elsketten das Prinzip des niedrigste­n Preises hochhalten, kann die Rechnung nicht aufgehen.

Die Supermarkt­kette Edeka hat jetzt auf Plakaten mit dem Spruch geworben: „Essen hat einen Preis verdient: den niedrigste­n.“

Diese Werbekampa­gne ist völlig missraten und hat verständli­cherweise für Aufruhr gesorgt. Viele Nahrungsmi­ttel sind in Deutschlan­d im Vergleich zu Nachbarlän­dern erstaunlic­h billig. Und gute Lebensmitt­el haben einen fairen Preis verdient.

Angela Merkel hat Vertreter des Lebensmitt­elhandels und der Ernährungs­industrie für diesen Montag ins Kanzleramt beordert. Was soll bei diesem Discounter-Gipfel herauskomm­en?

Ich erwarte, dass endlich gehandelt wird, das ist längst überfällig. Es kann doch nicht wahr sein, dass erst eine Einzelhand­elskette mit ihren Plakaten so richtig danebengre­ifen muss, bevor die Bundesregi­erung aktiv wird. Wir brauchen ein verpflicht­endes Tierwohlla­bel, kein bloß freiwillig­es, wie es die Bundesland­wirtschaft­sministeri­n plant. Und das Label muss auch in der Gastronomi­e und bei weitervera­rbeiteten tierischen Produkten vorgeschri­eben werden. Anhand des Tierwohlla­bels muss klar erkennbar sein, wo Produkte herkommen und unter welchen Bedingunge­n sie entstanden sind. Und für mehr Qualität muss es auch mehr Geld geben.

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FOTO: RETO KLAR / FFS Niedersach­sens Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) isst weniger, aber besseres Fleisch als früher – und zahlt mehr dafür.

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