„Schule ist Freiheitsentzug“
500 bis 1000 Kinder nehmen trotz Strafen nicht am staatlichen Unterricht teil. Die Bewegung gegen Schulpflicht wird immer professioneller
Leipzig. Strukturiert, fleißig, engagiert. Josefine Woyda ist 23, studiert in einer Kleinstadt im Osten Sachsen-Anhalts und gilt als Vorzeigestudentin. Sie ist eine der wenigen, die jede Vorlesung besuchen. Gute Noten sind ihr wichtig. Und das vermutlich schon seit der Schulzeit, könnte man meinen, so zielstrebig wie sie auftritt. Von wegen. Josefine brach die Schule ab. Sie wurde zur Freilernerin. Zu einer, die lernte, wann, wo und worauf sie Lust hatte. Ihr Abitur bestand sie später in Eigenregie, ohne täglich in einem Klassenraum zu sitzen. Sie sagt: „Schule ist Freiheitsentzug.“
Die Kultusministerkonferenz schätzt, dass es in Deutschland etwa 500 bis 1000 Kinder gibt, die bewusst noch nie oder nur sporadisch in einer Schule waren. Trotz absoluter Schulpflicht. Jedes Kind muss in eine staatlich geprüfte Institution gehen, um zu lernen. Tut es das nicht, drohen den Eltern Strafen, von Bußgeldern bis zum Entzug des Sorgerechts.
Mit dem Schulzwang steht Deutschland ziemlich allein da
Für Josefine Woyda war es vor allem der „starre Rahmen für ganz individuelle Menschen“, den sie als belastend empfand. Der Wechsel zwischen Mathe, Deutsch, Geschichte im 45 Minutentakt, die Orientierung an den Defiziten der Kinder, die Fixierung auf Prüfungen. Vielmehr solle jeder, so die Studentin, über seine Bildung entscheiden dürfen. Auch ihre Brüder, heute 12 und 16 Jahre alt, entschieden bald, nicht mehr in die Schule zu gehen. Der jüngere tut es bis heute nicht. Die Eltern konnten sich ihre Arbeit derart frei einteilen, dass sie viel zu Hause sein konnten. Anders als beim Homeschooling, bei dem die Kinder zu Hause unterrichtet werden, lehnen Freilerner einen festen Lehrplan ab. Die Kinder sollen sich nur mit dem beschäftigen, was sie wirklich interessiert, und ihrer inneren Neugier folgen, so die Philosophie.
Zugegeben, so Woyda, Handy und Playstation seien bei beiden Jungs sehr präsent.
Mit seinem Schulzwang steht Deutschland europaweit ziemlich allein da. Von Schweden abgesehen herrscht in den meisten anderen Ländern eine Bildungspflicht, darunter in Finnland, einem der PisaSpitzenreiter. Ob die Kinder zur Schule gehen oder sie sich die geforderten Standards anderswo aneignen, ist den Eltern freigestellt. Die Kommunen kontrollieren lediglich, ob der Sprössling ein ausreichendes Wissensniveau erreicht.
Luise Rößner aus Leipzig geht selbst das zu weit. Sie ist eine der Freilerner-Mütter, die sich auch gegen die Bildungspflicht ausspricht. Sie lehnt jeden Zwang in der Erziehung ihrer Kinder ab. Die drei – sechs, neun und zwölf Jahre alt – waren bis auf eine Ausnahme noch nie in einer Schule. Nur der Älteste habe es drei Jahre an einer regulären Schule versucht. Die negativen Erfahrungen seien jedoch unerträglich geworden, sagt Rößner. Da sei zum einen das Lesen gewesen. Von klein auf habe der Sohn Bücher geliebt. Mit der Schule sei plötzlich die Freude daran verschwunden, er habe sich als der Schlechteste in der Klasse gefühlt. Zudem gab es diesen Druck mit den täglichen Hausaufgaben, den sie nicht mittragen wollten. Und schließlich die Sache mit den Schuhen. Bis dahin sei er immer barfuß gelaufen, sagt Rößner, auf einmal durfte er das nicht mehr. „Er konnte einfach nicht so sein, wie er wollte.“
Die Familie zog die Reißleine und entschied sich für den „freien Weg“. Sie ging nach Portugal, wo viele Gleichgesinnte aus Deutschland leben. Rechnen beim Kuchenbacken. Ökologie beim Toben im Wald – „es schien uns wie das Paradies, ohne Angst und Druck“, sagt Luise Rößner rückblickend. Ein Jahr später kehrten sie nach Leipzig zurück. Gescheitert sei es vor allem am Geld. Ihr Mann arbeitete wieder in seinem alten Beruf als technischer Zeichner. Erneut wartete die Schulpflicht auf sie. Für ihre Überzeugung nehmen die Rößners einiges in Kauf. Seit Jahren stehen sie im
Streit mit den Behörden. Immer wieder treffen Bußgeldbescheide vom Schulamt ein. Aktuell droht die Sache vor Gericht zu gehen. Auch das Jugendamt stand schon vor der Tür, um sicherzustellen, dass die Kinder wohlauf sind. Einige Familien riskierten bereits, das Sorgerecht zu verlieren.
Wie ein typischer Tag bei ihnen aussieht? Einen festen Ablauf gibt es nicht, sagt Rößner. Der Versuch, eine feste Lernzeit einzuführen, war gescheitert. „Das hat nicht gepasst, dass ich die Rolle der Lehrerin einnehme.“Irgendwann ließen sie die Sache einfach laufen. „Sie gehen spazieren, zur Bibliothek, treffen Freunde, beschäftigen sich mit sich selbst, sind im Karate- und Capoeira-Verein aktiv.“Die Sechsjährige könne schon jetzt Wörter zusammensetzen, die Ältere habe mit ihren neun Jahren da mehr Probleme. Der Zwölfjährige beschäftige sich am liebsten mit Rollen- und Computerspielen.
Nach eigenen Angaben wächst die Freilerner-Bewegung seit Jahren und organisiert sich immer professioneller. Eigene Anwälte beraten sie in Rechtsfragen, der Verein leistet im Ernstfall finanzielle Unterstützung. Ihre Anhänger treffen sich zu Stammtischen, einmal im Jahr gibt es ein Festival, bei dem sie sich auch über Wege austauschen, wie sie „das System“umgehen können.
Das Leben in der Illegalität mache es der Szene dennoch schwer, sich zu entfalten, sagt Rößner. Wie sich Kinder entwickeln, die nie eine Schule besucht haben, ist bislang allerdings kaum untersucht.
„Er konnte einfach nicht so sein, wie er wollte“
Luise Rößner, Mutter aus
Leipzig, über ihren Sohn