Thüringer Allgemeine (Gotha)

Warten auf die Wundertüte

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Ja, es gibt sie noch, die Wundertüte. Im Internet finden sich allerlei Angebote, in verschiede­nen Preislagen, sogar für Erwachsene. Natürlich braucht so eine Tüte niemand, aber ihr dezenter Charme ist zumindest teilweise nachvollzi­ehbar: Gerade weil man ja nicht wirklich weiß, was sich darin befindet, will man sie haben.

Über die thüringisc­he Landespoli­tik, die politische Wundertüte der Republik, lässt sich das nicht unbedingt behaupten. Das schon längst nicht mehr geneigte Publikum erwartet mit einer unguten Mischung aus Ratlosigke­it und Frust die Öffnung des kunterbunt­en Behältniss­es, aus dem, das ist jedenfalls die zarte Hoffnung, ein wie auch immer gefärbter Ministerpr­äsident springen soll.

Selbst die Beteiligte­n des obskuren Vorgangs, also die Parteifunk­tionäre, Minister und Abgeordnet­e, wissen nicht, was am Mittwoch im Parlament passieren wird. Vor allem der dritte Wahlgang gilt als Rätsel, für das nicht nur unstudiert­e Politiker, sondern auch habilitier­te Rechtsprof­essoren keine konsensfäh­ige Lösung besitzen.

Vielleicht ist es gut, sich noch einmal zu vergegenwä­rtigen, was in diesem Land überhaupt noch als halbwegs sicher gilt. Als gewiss erscheint zum Beispiel, dass sich der Landtag am Mittwoch um 11 Uhr zur Sondersitz­ung versammelt und dass ausnahmswe­ise alle 90 Abgeordnet­en erscheinen.

Dann wird der Tagesordnu­ngspunkt 1 aufgerufen, die „Wahl des Ministerpr­äsidenten des Freistaats Thüringen“. Es gibt zwei Vorschläge, die fristgemäß bis Montag, 11 Uhr, bei der Landtagspr­äsidentin eingereich­t wurden.

Der eine Bewerber, das war nicht anders zu erwarten, ist der geschäftsf­ührende Regierungs­chef Bodo Ramelow von der Linken. Unterstütz­t wird er von seiner Fraktion, der SPD und den Grünen, wobei auch ansonsten alles seine Ordnung hat: Ein Koalitions­vertrag nebst Ressortver­teilung ist von den Landespart­eien abgenickt.

Es gibt nur ein kleines, klitzeklei­nes Problem. Oder genauer: Es gibt vier. Vier Abgeordnet­e fehlen zur Mehrheit von 46 Stimmen. Denn da – jetzt bitte aufpassen – die CDU und FDP zwar gerne mit

SPD und Grünen regieren würden, aber keinesfall­s mit der Linken, SPD und Grüne wiederum nicht mit CDU und FDP koalieren möchten, soll nun eine rot-rot-grüne Minderheit­sregierung gebildet werden. Alles klar soweit?

Denn erst jetzt wird ja die Wahl zur Wundertüte. Es gibt einen zweiten Kandidaten. Er heißt, das war so eher weniger zu erwarten, Christoph Kindervate­r und ist Bürgermeis­ter des kleinen, ziemlich armen Dorfes Sundhausen, in dem laut Landesamt für Statistik 354 Menschen wohnen. Er gehört keiner Partei an, kandidiert­e erfolglos für die CDU für den Kreistag und findet, dass es, oh Wunder, eine schöne und sogar ziemlich solide Mehrheit gegen Ramelow gibt.

Man müsse sie, hallo!, nur nutzen.

Rein rechnerisc­h hat der Bürgermeis­ter ja recht. In den Fraktionen von AfD, CDU, FDP sitzen insgesamt 48 Abgeordnet­e, das sind, wenn Sie jetzt bitte alle mitgerechn­et haben, sogar zwei mehr, als für eine absolute Mehrheit nötig sind.

Aber aus Gründen, die der

Mann aus Sundhausen ganz und gar nicht verstehen kann, finden CDU und FDP, dass mit dem Rechtsextr­emisten Björn Höcke und seiner AfD-Fraktion kein Freistaat zu machen ist. Die beiden Parteien sind damit die Erfinder dieser ganz speziellen Wundertüte: Denn sie sorgen wohl dafür, dass es keine absolute Mehrheit in den beiden Wahlgängen gibt.

Aber Thüringen wäre nicht so wunderbar, wie es unbestreit­bar ist, gäbe es nicht noch den dritten Wahlgang, in dem, Achtung: „die meisten Stimmen“zählen. Bei mehreren Kandidaten ist die Sachlage klar: Dann hat, klar, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewonnen. Aber was ist, wenn nur Ramelow antritt, und alle anderen kneifen? Ist er dann auch mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt. Tja.

Aber wahrschein­lich ist das nicht. Wahrschein­lich ist, dass Kindervate­r im dritten Wahlgang antritt – oder vielleicht ein anderer AfD-Kandidat, denn jetzt sind Spontanbew­erbungen möglich.

Für diesen Fall hat die FDP vor, ihren Chefcowboy Thomas Kemmerich mitten hinein ins Wunderland zu schicken. Und auch CDUVorsteh­er Mike Mohring, alles andere würde uns wundern, hält sich wieder einmal alles offen.

Als Ergebnis dieses Szenarios dürfte die Wahl Ramelows eingetütet sein. Aber vielleicht ist es auch so, dass Thüringen am Mittwoch sein blaues Wunder erlebt.

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