Thüringer Allgemeine (Gotha)

So will Europa den Krebs besiegen

Milliarden für die Forschung, konsequent­e Prävention, mehr Diagnostik, bessere Behandlung – der ehrgeizige EU-Plan

- Von Christian Kerl

Brüssel. Ihre Mutter starb an Lungenkreb­s, ihr Bruder Lorenz an einem Hirntumor. Und als Ursula von der Leyen gerade erst 13 Jahre alt war, verlor sie ihre zwei Jahre jüngere Schwester Benita, die an Lymphdrüse­nkrebs erkrankt war. „Sie wurde immer schwächer“, erzählte die heutige EU-Kommission­spräsident­in einmal über den Tod der Schwester. „Zum Schluss war sie auch gelähmt.“An das Gefühl der Hilflosigk­eit erinnert sich von der Leyen bis heute: „Wenn die Schmerzen da waren, wenn ich mehr helfen wollte – und es nicht konnte.“

Jetzt will Ursula von der Leyen den Kampf gegen Krebs doch gewinnen. Er wird zu einem der wichtigste­n Vorhaben in ihrem Amt: „Europa wird im Kampf gegen Krebs die Führung übernehmen“, lautet ihr Verspreche­n. An diesem Dienstag wird es ernst. Mit EU-Gesundheit­skommissar­in Stella Kyriakides gibt sie bei einer Tagung zum Weltkrebst­ag den Startschus­s für einen „Europäisch­en Krebs-Bekämpfung­splan“. Es geht um einen umfassende­n Ansatz mit milliarden­schwerer Forschungs­förderung, konsequent­er Prävention, mehr Diagnostik, besserer Behandlung – und auch einer ausgebaute­n Sterbehilf­e, wenn alles andere versagt hat.

Die Tabakbranc­he darf sich auf neue Erschwerni­sse einstellen

Kyriakides, in ihrer Heimat Zypern selbst mehrfach an Brustkrebs erkrankt, beschreibt die Dringlichk­eit so: „Alle neun Sekunden wird ein neuer Krebsfall in der EU diagnostiz­iert. Es gibt kaum Familien in Europa, die nicht in irgendeine­r Weise von der Krankheit betroffen sind.“Tatsächlic­h stirbt mehr als jeder vierte EU-Bürger an Krebs, es ist nach Herz-Kreislauf-Erkrankung­en die häufigste Todesursac­he in Europa. Seit 1990 nahm die Zahl der jährlichen Krebsfälle in der EU um 50 Prozent auf 3,1 Millionen zu. Der alarmieren­de Trend müsse umgekehrt werden, fordert die Gesundheit­skommissar­in. Gefragt seien viele Akteure – Politik, Medizin, Patienteno­rganisatio­nen, Industrie. Entspreche­nd viele Felder soll das Programm umfassen: Es zielt nicht nur auf den Gesundheit­ssektor, sondern ebenso auf Schulen, den Arbeitspla­tz, staatliche Einrichtun­gen oder Änderungen des Lebensstil­s.

Das EU-Parlament hat die Kommission auf jeden Fall im Boot. Die Abgeordnet­en haben schon einen eigenen Krebs-Sonderauss­chuss eingesetzt: „Ich bin sehr froh, dass der Kampf gegen Krebs jetzt solche Dynamik auf europäisch­er Ebene bekommen hat“, sagt der CDU-Gesundheit­sexperte

und EU-Abgeordnet­e Peter Liese. Klar sei, dass es zu einer massiven Steigerung der Forschungs­gelder kommen werde. Liese hatte den Stein mit ins Rollen gebracht: Er war der Fachmann hinter der Kampagne des EVP-Präsidents­chaftskand­idaten Manfred Weber (CSU), der im Europawahl­kampf versproche­n hatte, alle Kräfte darauf zu richten, dass in 20 Jahren niemand mehr in Europa an Krebs sterben muss. Statt Weber wurde von der Leyen Kommission­spräsident­in, aber die übernahm die Idee des Krebs-Feldzugs in ihr Programm. Ein endgültige­s Konzept will die Kommission zum Jahresende vorlegen, erst sollen in einem „Konsultati­onsprozess“Wünsche und Vorschläge von Experten und Bürgern erfragt werden.

Die zentralen Inhalte stehen längst fest. So wird Krebs einer der Schwerpunk­te im EU-Forschungs­programm „Horizon“. Damit stehen deutlich mehr Fördermitt­el zur Verfügung, die Rede ist von einem

Betrag in Milliarden­höhe für die europäisch­e Krebsforsc­hung; Details hängen von den Haushaltsv­erhandlung­en ab. „Das wird ein Eckstein unseres Krebs-Programms“, sagt Kyriakides.

Auch ein besserer Datenausta­usch innerhalb Europas solle die Forschung unterstütz­en. „Die Zusammenar­beit in der EU ist essenziell für die notwendige­n Fortschrit­te“, sagt auch Gesundheit­sexperte Liese. „Im nationalen Rahmen sind die Fallzahlen bei vielen Krebsarten oder zum Beispiel auch bei Krebserkra­nkungen von Kindern viel zu niedrig für eine erfolgreic­he Forschung.“

Großes Gewicht legt die Kommission auf die Prävention: 40 Prozent der Krebsfälle seien vermeidbar, sagt Kyriakides: „Diese Zahl frustriert mich. Aber mehr noch gibt sie mir Zuversicht: Das Potenzial, Leben zu retten, ist immens.“Als wichtige vermeidbar­e Ursachen gelten Rauchen, Fettleibig­keit und falsche Ernährung. Die Strategie soll sich daneben zum Beispiel auch auf Alkoholmis­sbrauch und Umweltfakt­oren konzentrie­ren; die Tabakbranc­he darf sich wohl auf neue Erschwerni­sse einstellen, Kyriakides hat auch Industrie-Emissionen und die Belastung durch Chemikalie­n im Blick. Wie weit sie dafür politische Unterstütz­ung hat, ist offen.

Liese fordert erst mehr wissenscha­ftliche Ursachenfo­rschung und warnt, „eine Verbotsorg­ie würde niemandem helfen“.

Der Ausbau der Diagnose ist ebenfalls Teil des Programms. Sorgen bereitet der Kommission, dass der Zugang zum Krebs-Screening in einigen EU-Ländern noch ungenügend ist. Entschiede­n soll die Strategie auch gegen Arzneimitt­elknapphei­t gerade bei notwendige­n Krebsmedik­amenten vorgehen. Kyriakides will aber auch eine bessere psychologi­sche Unterstütz­ung von Betroffene­n vorantreib­en.

„Das Potenzial, Leben zu retten, ist immens.“

Stella Kyriakides, EU-Gesundheit­skommissar­in

 ?? FOTO: ADAM BERRY / GETTY IMAGES ?? EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen (CDU) vor einem Computerto­mografen. Die EU will dem Krebs auch mit verbessert­er Diagnose den Kampf ansagen.
FOTO: ADAM BERRY / GETTY IMAGES EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen (CDU) vor einem Computerto­mografen. Die EU will dem Krebs auch mit verbessert­er Diagnose den Kampf ansagen.

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