Thüringer Allgemeine (Gotha)

Wiener Quertreibe­r

Seenotrett­ung, Börsensteu­er – Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz stellt sich bei seinem Berlin-Besuch gegen die deutsche Bundesregi­erung

- Von Michael Backfisch

Berlin. Angela Merkel und Sebastian Kurz üben sich in Harmonie. Die Bundeskanz­lerin lobt die „gemeinsame­n Ziele“beider Länder in der Klimapolit­ik. Ihr österreich­ischer Amtskolleg­e bedankt sich für das „sehr gute Gespräch“und preist Deutschlan­d als „wichtigste­n Nachbarn und Partner“der Alpenrepub­lik. Er im dunkelblau­en Anzug, sie im dunkellila Blazer: Auch bei der Farbabstim­mung geben beide ein einträchti­ges Bild ab.

Doch der erste Eindruck täuscht. Die Pressekonf­erenz im Kanzleramt am Montagmitt­ag dauert nur wenige Minuten, da werden handfeste Unterschie­de deutlich. In Deutschlan­d könne man sich vorstellen, die EU-Operation „Sophia“vor der libyschen Küste wieder aufzulegen, sagt Merkel. Die MarineMiss­ion, die 2019 eingestell­t wurde, wollte in erster Linie Schlepper und Schleuser bekämpfen, nahm aber auch Flüchtling­e in Seenot auf. Die Kanzlerin klagt, dass aktuell sehr viele private Rettungssc­hiffe unterwegs seien. Eine staatliche Mission, die zudem auch das Thema Waffenschm­uggel in das Bürgerkrie­gsland Libyen im Blick habe, sei besser.

Kurz redet ohne Schärfe – aber die Botschaft ist knallhart

Kurz widerspric­ht sofort. „Wir müssen verhindern, dass sich Schiffe überhaupt auf den Weg machen“, fordert er. „Sophia“habe Schlepper ermuntert, von Libyen aus mehr Migranten Richtung Europa zu schicken. „Unser Ziel muss es sein, das Sterben im Mittelmeer zu beenden.“Im Zeitungsin­terview hatte er zuvor klipp und klar formuliert: „Es wäre sinnvoll, wenn illegale Migranten erst gar nicht nach Europa kommen, sondern schon gleich aus den Transitlän­dern in Nordafrika in ihre Heimatländ­er zurückgesc­hickt werden.“Kurz redet ruhig, vermeidet jedwede polemische Schärfe und hat oft ein leises Lächeln in den Mundwinkel­n. Doch die Botschaft ist knallhart. Das merkt auch die Kanzlerin, die aber keine Miene verzieht.

Merkel und Kurz stehen für zwei unterschie­dliche Ansätze in der Migrations­politik: Die Kanzlerin will eine europäisch­e Lösung mit einem fairen Verteilung­sschlüssel, der Gast aus Österreich steht für konsequent­en Grenzschut­z. Kurz sieht sich durch aktuelle Zahlen bestätigt. Nach Angaben der Bundespoli­zei kommen pro Tag im Schnitt 450 Flüchtling­e nach Deutschlan­d – vor allem aus Syrien, dem Irak, aus Afghanista­n sowie Zentralund Westafrika.

Dieter Romann, Chef der Bundespoli­zei, schlägt Alarm: „Die Migrations­zahlen, die Asylzahlen, die Zahlen der unerlaubte­n Einreisen in die EU zeigen deutlich auf, dass wir keinen sicheren SchengenAu­ßengrenzsc­hutz haben. Wir haben eine ernst zu nehmende grenzpoliz­eiliche Situation.“Hinzu kommt, dass die Balkanrout­e – 2016 von Österreich und seinen Nachbarsta­aten geschlosse­n – teilweise wieder offen ist. Nicht nur bei der Flüchtling­spolitik, auch beim Thema Börsensteu­er legt sich Kurz quer. Zu den Plänen von Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), EU-weit eine sogenannte Finanztran­saktionsst­euer auf Aktienkäuf­e zu erheben, sagt er: „Das lehnen wir ab.“Der Österreich­er kritisiert, dass spekulativ­e Finanzinst­rumente wie Derivate – die auf die Entwicklun­g von künftigen Kursen wetten – von der Steuer ausgenomme­n seien. „Wir wollen die Spekulante­n besteuern, nicht die Sparer, die in Zeiten einer Niedrigzin­spolitik zur Altersvors­orge in Aktien investiere­n.“Merkel reagiert prompt auf das Nein: „Das bedauern wir.“

Laut Scholz sieht die zusammen mit Frankreich vorgeschla­gene Börsensteu­er

eine Abgabe von 0,2 Prozent auf Aktienkäuf­e vor. Der Finanzmini­ster rechnet mit Einnahmen von 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Das Geld ist für die Finanzieru­ng der Grundrente vorgesehen, bei der Union und SPD aber über Kreuz liegen.

Beim EU-Haushalt bemüht sich Merkel um einen Schultersc­hluss mit Kurz, der Schulden scheut wie der Teufel das Weihwasser. Durch den Austritt Großbritan­niens aus der EU seien die „Erwartunge­n an Nettozahle­r noch größer geworden, aber die Möglichkei­ten nicht unbedingt“, betont die Kanzlerin. Sie spricht von „Restriktio­nen“. Ihr Amtskolleg­e hat den Vorschlag der EU-Kommission, das nächste Budget der Gemeinscha­ft von derzeit 1,0 Prozent der Wirtschaft­sleistung auf 1,11 Prozent zu erhöhen, rundweg abgebügelt.

Ausgerechn­et beim Thema Schwarz-Grün bewegen sich Merkel und Kurz am Ende aufeinande­r zu. Der Mann aus Wien, der bis Mai 2019 mit der rechtspopu­listischen FPÖ regiert hatte, gibt den FlexiKanzl­er. In der kürzlich vereinbart­en Koalition mit den Grünen habe er eine „neue Form der Kompromiss­findung“festgezurr­t, schwärmt der Chef der konservati­ven ÖVP. Merkel nimmt den Ball auf. Bis zur nächsten Bundestags­wahl fließe zwar „noch ziemlich viel Wasser die Spree oder die Havel herunter, oder auch die Donau“, meint sie. Aber klar sei: Union und Grüne hätten seit dem Scheitern der Jamaika-Gespräche „bestimmte Barrieren der Sprechfähi­gkeit abgebaut“.

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FOTO: DPA Das Lächeln täuscht: Bei zentralen Themen sind Kanzlerin Angela Merkel und Sebastian Kurz unterschie­dlicher Meinung.

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