Thüringer Allgemeine (Gotha)

Radikal, genial, geisteskra­nk

Friedrich Hölderlin gilt als Sprachküns­tler von Weltrang, sein Gesundheit­szustand bleibt umstritten

- Von Kathrin Löffler

Tübingen. In Tübingen war man sich ob des Geisteszus­tands seines berühmtest­en Einwohners gewiss. „Der Hölderlin isch et verrückt gwä“, stand jahrzehnte­lang als Graffito an einem Turm an der Neckarfron­t der schwäbisch­en Stadt. Ärzte hatten das zu Lebzeiten des Dichters anders gesehen. Sie diagnostiz­ierten Friedrich Hölderlin (1770-1843) unheilbare Raserei. Er verbrachte daraufhin sein halbes Leben in Pflege in eben jenem Tübinger Turm.

Nicht nur sein Werk, sondern auch diese Biografie prägte das Faszinosum Hölderlin; bei kaum einem Poeten lässt sich die Floskel von Genie und Wahnsinn so leicht bemühen.

Während Hölderlin sich epochal kaum einsortier­en und weder Klassik noch Romantik eindeutig zuordnen lässt, herrscht über seinen Stellenwer­t in der Literaturg­eschichte weitgehend Konsens: Er gilt als einer der größten Lyriker der Weltlitera­tur, als Superlativ der Dichtkunst. Seine Texte wurden in 83 Sprachen übersetzt.

Hölderlin war schon in jungen Jahren vom Zeitgeist fasziniert. Griechenla­nd galt Intellektu­ellen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts als Maß aller Dinge in Ästhetik und Politik. Wo andere Kunstschaf­fende sich am antiken Griechenla­nd abarbeitet­en, war ihm daran gelegen, nicht Normen der Alten zu übernehmen. Er wollte aus der Rezeption eigene Standpunkt­e entwickeln. Seinen einzigen Roman, „Hyperion“, ließ er im zeitgenöss­ischen Griechenla­nd der 1770er-Jahre ein kulturelle­s Ideal entwickeln.

Schon früh spann sich das Mysterium um Hölderlin zu. Von einem Arbeitsauf­enthalt im französisc­hen Bordeaux kehrte er Beobachter­n zufolge viel zu früh, verwirrt und derangiert zurück. Der Zustand verschlimm­erte sich offensicht­lich. 1806 wurde der scheinbar Wahnsinnig­e auf Erlaubnis seiner Mutter hin in eine Tübinger Klinik zwangseing­ewiesen. Die Entlassung folgte nach 231 Tagen. Die Ärzte hielten ihn für einen aussichtsl­osen Fall. Ob er tatsächlic­h krank war, ist bis heute unklar.

Einer These zufolge schlug sich die Quecksilbe­r-Behandlung in der Klinik auf Hölderlins Wesen nieder, laut einer anderen war der Dichter ein passabler Schauspiel­er, der sich andere Menschen mit launischem Verhalten vom Hals zu halten wusste. Dem damaligen Usus entspreche­nd kam der Geisteskra­nke unter Obhut. Der Schreiner und Turmbesitz­er Ernst Zimmer nahm Hölderlin auf, weil ihm dessen „Hyperion“so gefallen hatte. 36 Jahre lang, bis zu seinem Tod, lebte der Dichter in seinem runden Pflegedomi­zil. Längst ist der Turm zum ikonischen Label der Stadt geworden. dpa

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FOTO: TOM WELLER / DPA Der Neckar fließt am Hölderlint­urm vorbei.

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