Radikal, genial, geisteskrank
Friedrich Hölderlin gilt als Sprachkünstler von Weltrang, sein Gesundheitszustand bleibt umstritten
Tübingen. In Tübingen war man sich ob des Geisteszustands seines berühmtesten Einwohners gewiss. „Der Hölderlin isch et verrückt gwä“, stand jahrzehntelang als Graffito an einem Turm an der Neckarfront der schwäbischen Stadt. Ärzte hatten das zu Lebzeiten des Dichters anders gesehen. Sie diagnostizierten Friedrich Hölderlin (1770-1843) unheilbare Raserei. Er verbrachte daraufhin sein halbes Leben in Pflege in eben jenem Tübinger Turm.
Nicht nur sein Werk, sondern auch diese Biografie prägte das Faszinosum Hölderlin; bei kaum einem Poeten lässt sich die Floskel von Genie und Wahnsinn so leicht bemühen.
Während Hölderlin sich epochal kaum einsortieren und weder Klassik noch Romantik eindeutig zuordnen lässt, herrscht über seinen Stellenwert in der Literaturgeschichte weitgehend Konsens: Er gilt als einer der größten Lyriker der Weltliteratur, als Superlativ der Dichtkunst. Seine Texte wurden in 83 Sprachen übersetzt.
Hölderlin war schon in jungen Jahren vom Zeitgeist fasziniert. Griechenland galt Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Maß aller Dinge in Ästhetik und Politik. Wo andere Kunstschaffende sich am antiken Griechenland abarbeiteten, war ihm daran gelegen, nicht Normen der Alten zu übernehmen. Er wollte aus der Rezeption eigene Standpunkte entwickeln. Seinen einzigen Roman, „Hyperion“, ließ er im zeitgenössischen Griechenland der 1770er-Jahre ein kulturelles Ideal entwickeln.
Schon früh spann sich das Mysterium um Hölderlin zu. Von einem Arbeitsaufenthalt im französischen Bordeaux kehrte er Beobachtern zufolge viel zu früh, verwirrt und derangiert zurück. Der Zustand verschlimmerte sich offensichtlich. 1806 wurde der scheinbar Wahnsinnige auf Erlaubnis seiner Mutter hin in eine Tübinger Klinik zwangseingewiesen. Die Entlassung folgte nach 231 Tagen. Die Ärzte hielten ihn für einen aussichtslosen Fall. Ob er tatsächlich krank war, ist bis heute unklar.
Einer These zufolge schlug sich die Quecksilber-Behandlung in der Klinik auf Hölderlins Wesen nieder, laut einer anderen war der Dichter ein passabler Schauspieler, der sich andere Menschen mit launischem Verhalten vom Hals zu halten wusste. Dem damaligen Usus entsprechend kam der Geisteskranke unter Obhut. Der Schreiner und Turmbesitzer Ernst Zimmer nahm Hölderlin auf, weil ihm dessen „Hyperion“so gefallen hatte. 36 Jahre lang, bis zu seinem Tod, lebte der Dichter in seinem runden Pflegedomizil. Längst ist der Turm zum ikonischen Label der Stadt geworden. dpa