„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Das Zelt war wirklich winzig. Vorne am Eingang gerade mal hüfthoch, fiel es nach hinten nicht nur in der Höhe ab, sondern lief auch spitzer zu, sodass in den „Fußraum“in der Tat nur die vier Füße passten. Doch auch Campingplätze kosteten Geld, sodass die beiden dazu übergingen, wild zu zelten.
Sie fuhren mit dem klapprigen Auto in einen Wald- oder Feldweg, suchten sich einen schwer einsehbaren Platz und bauten im Sichtschatten des Autos ihr kleines Zelt auf. In einer Nacht hatten sie zwischen der Schlucht von Verdon und der Côte d’Azur wild gecampt und wurden von einem heftigen Regen überrascht, bei dem sie feststellten, dass ihr Zelt überall dort das Wasser durchließ, wo sie während des Regens die Zeltbahn prüfend mit der Hand angefasst hatten. Mitten in der Nacht flüchteten sie in den Käfer, dessen Scheiben schnell beschlugen. Und weil der Regen auch am nächsten Morgen noch nicht aufgehört hatte, warfen sie Luftmatratzen,
Decken und Zelt klatschnass ins Auto. Am Abend mussten sie lange suchen, bis sie in einem kleinen Nest namens Montferrat ein Hotel fanden, das sie nicht nur übernachten ließ, sondern in dessen Heizungskeller sie auch Zelt und Decken trocknen konnten.
In diesem Urlaub war es auch, wo die beiden Studenten feststellten, dass keiner von ihnen so katholisch war, wie es ihre Elternhäuser erwarten ließen, und wie es die geistlichen Eliten der Universität von Eichstätt gern gesehen hätten. Für Kurzweil sorgten schon die vergnügungssüchtigen Mädchen an der Côte d’Azur, die von den beiden jungen Deutschen durchaus angetan waren. So überließen sie sich beide so manches Mal das Zelt für ein Schäferstündchen mit einer Begleiterin, ja einmal sogar durfte sich Böhringer, der mit seiner schlanken Figur und den jesusgleichen langen Haaren der Attraktivere war, eine ganze Nacht mit seiner Flamme in dem winzigen Zelt amüsieren.
Bei der Erinnerung an die Tage in Südfrankreich musste Stadler lächeln. Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Ja, er würde Hans Böhringer um Urlaub bitten, aber um deutlich mehr als die vier Wochen Auszeit, die dieser ihm von sich aus angeboten hatte. Und warum denn nicht? Warum denn nicht noch all das ansehen, was er sich bislang versagen musste, weil es dienstlich keinen Grund gab, zu diesen Zielen zu reisen, und weil er nur wenig Sinn darin erkennen konnte, seinen Urlaub in dem Land zu verbringen, in dem er arbeitete. Warum nicht einige der Bücher schon jetzt lesen, deren Lektüre er in Gedanken immer wieder auf den Ruhestand verschoben hatte. Oder solche, die er gerne mehrfach las. Zum Beispiel Goethes „Italienische Reise“, obschon er sie dann bereits zum dritten Mal lesen würde. Immerhin, es blieben ja noch fast 50 Wochen.
Bei dem Gespräch mit seinem Chefredakteur würde er ihn auch an die gemeinsamen Abenteuer in Frankreich erinnern. Das könnte durchaus förderlich für meine Pläne sein, dachte sich Stadler.
Vielleicht hälfe das Reisen ja auch gegen seine trübsinnigen Gedanken. Und wenn er des Reisens dann doch überdrüssig wäre, könne er sich noch immer überlegen, sofort nach München zurückzukehren oder ... ach, er dachte ja schon wieder daran.
Es war nicht der Gang nach Canossa, der Laurenz Stadler an diesem Tag ins Goethe-Institut führte. Er hatte schließlich die Entscheidung seiner Zeitung weder zu verantworten noch auszubaden. Doch er hatte ein gutes Verhältnis zum Institut insgesamt und zu dessen Chefin Susanne Höhn im Besonderen. Schon oft hatte ihm das Institut Praktikanten für die Arbeit vermittelt. Mehrfach hatte auch er über die Aktivitäten dieses Centro Culturale Tedesco berichtet. Direkt dem Auswärtigen Amt in Berlin unterstellt, kümmerte sich das Goethe-Institut im weitesten Sinne um die Verbreitung deutscher Sprache und Kultur im Ausland. Hier in Rom beinhaltete das Sprachkurse ebenso wie Schreibwettbewerbe, kleine Filmfestivals, Autorenlesungen und Workshops.
Cambio d’Aria, was man gut mit Tapetenwechsel übersetzen kann, lautete in diesem Jahr ein interessantes Projekt des Goethe-Institutes. Dabei wurden italienische und deutsche Journalisten in das jeweils andere Land geschickt, um Vorurteile und Klischees zu prüfen. Eine spannende Sache, in deren Verlauf die Teilnehmer 14 italienische und deutsche Städte und Arbeitsplätze kennenlernen konnten. Parallel wurden Filme gedreht, Karikaturen gezeichnet und durchquerten zwei Journalisten als Tandem Europa von Lissabon bis Moskau.
Stadlers Part bei diesem Tapetenwechsel wäre eine vier Wochen lange Betreuung eines Thüringer Journalisten in Rom gewesen. Wäre gewesen – der Münchner Bote hatte vor Monatsfrist sein Engagement in dem Projekt für beendet erklärt, die Gründe dafür waren Stadler inzwischen bestens vertraut: Zu dem Zeitpunkt, an dem der Partnertausch beginnen sollte, würde es kein Korrespondentenbüro in Rom mehr geben. Fortsetzung folgt