Thüringer Allgemeine (Gotha)

Amoklauf schockt Kanada

Ein Mann hat in der Provinz Nova Scotia mindestens 19 Menschen getötet. Auch er selbst stirbt. Sein Motiv ist völlig unklar

- Von Dirk Hautkapp

Washington/Halifax. In seinem Jahrbuch nach Abschluss der Highschool 1986 findet sich ein Satz über Gabriel Wortman, der die Ermittler in der schlimmste­n Schusswaff­en-Tragödie in der jüngeren Geschichte Kanadas aufhorchen lässt. Seine Zukunft „könnte darin liegen, ein Officer der RCMP zu werden“, heißt es da. Also der „Royal Canadian Mounted Police“. Also ein „Mountie“, wie die hoch angesehene­n und beliebten kanadische­n Polizisten in ihren roten Uniformen genannt werden.

Ob der 51-Jährige, der zwischen Samstagnac­ht und Sonntagmit­tag in der beschaulic­hen und landschaft­lich spektakulä­ren Provinz Nova Scotia während eines Amoklaufs 19 Menschen erschoss und später offenbar nach einem Feuergefec­ht mit der Polizei starb, jemals diesen Karrierewe­g einschlage­n wollte, ist bislang nicht bekannt. Dass er bei der Bluttat zwischenze­itlich verbotener­weise eine Polizeiuni­form trug und in einem bei einer Auktion ersteigert­en alten Polizeiwag­en unterwegs war, der nach akribische­m Aufmotzen von einem echten Streifenwa­gen kaum zu unterschei­den war, gibt Chris Leather jedoch zu denken.

„Das spricht dafür, dass es keine Zufallstat war“, sagte der regionale Polizeiche­f bei einer Pressekonf­erenz. War es der Racheakt eines Mannes, der nach Angaben von Nachbarn besessen war von PolizeiEri­nnerungsst­ücken und regelmäßig alte Polizeiwag­en restaurier­te? Spielte die Tatsache, dass Coronaviru­s-bedingt das alteingese­ssene Zahntechni­k-Labor Wortmans in Dartmouth nahe der Provinzhau­ptstadt Halifax seit Wochen zwangsgesc­hlossen war?

Polizistin und Mutter von zwei Kindern kam ums Leben

Kannte Wortman, der als wohlhabend und alkoholkra­nk beschriebe­n wurde, die Opfer oder hat er wahllos Menschen getötet? Hinterließ er einen Abschiedsb­rief? Wo hatte er eingedenk im Vergleich zu den USA strengster Gesetze die Waffen her?

„Wir sind noch weit entfernt davon, ein Motiv nennen zu können“, sagte Kanadas Polizeiche­fin Brenda Lucki im Fernsehen, „es gibt viele Tatorte und offene Fragen.“Selbst die endgültige Totenzahl stehe noch nicht definitiv fest.

Nach ihren Schilderun­gen begann die Tragödie am Samstagabe­nd kurz vor Mitternach­t im Küstenstäd­tchen Portapique 130 Kilometer nördlich von Halifax. Ein winziges Kaff mit knapp 100 regelmäßig­en Bewohnern, in dem Wortman mehrere Immobilien besaß.

Nach einem Notruf fand die Polizei dort in einem Haus mehrere Leichen. Anwohner wurden aufgeforde­rt, sich in ihren Häusern zu verbarrika­dieren, da man den Täter in der Nähe wähnte. Es kam zu einer Verfolgung­sjagd.

Augenzeuge­n berichtete­n von Bränden auf mehreren Grundstück­en und brennenden Polizeiaut­os. Die Polizistin Heidi Stevenson, zwei Kinder, seit 23 Jahren im Dienst gewesen, kam bei einer Konfrontat­ion mit Wortman ums Leben. Ein männlicher Kollege wurde angeschoss­en, die Verletzung­en waren nicht lebensgefä­hrlich.

Im Verlauf der Flucht, die bislang nur in Umrissen rekonstrui­ert ist, stoppte Wortman (verkleidet als „Mountie“im Pseudo-Polizeiwag­en) nach Recherchen der Zeitung „The Globe and Mail“auf einer Straße in der Nähe der Ortschaft Ebert ein Fahrzeug und erschoss die Insassen. Später soll der Todesschüt­ze auf einen neutralen Chevrolet-SUV umgestiege­n sein.

Bei Enfield nahe Halifax war am Sonntagmit­tag Endstation des Amoklaufs, der sich über zwölf Stunden und fast 100 Kilometer erstreckte.

Gabriel Wortman, so die Polizei, wurde an einer Tankstelle festgenomm­en. Wenig später habe es ein Feuergefec­ht gegeben, das der Täter nicht überlebte, berichtete das kanadische Fernsehen CTV. Die Umstände

der Eskalation werden von einer Spezial-Einheit der Polizei untersucht.

Stephen McNeil, der Premiermin­ister Nova Scotias, sprach von einem „der sinnlosest­en Gewaltakte in der Geschichte unseres Lande“. Erste Angehörige von Opfern wie der Krankensch­wester Heather O’Brien oder der Grundschul­lehrerin Lisa McCully meldeten sich erschütter­t über Facebook zu Wort und fragten: „Warum?“.

Kanadas Premiermin­ister Justin Trudeau erklärte betroffen: „Zusammen werden wir mit den Familien dieser Opfer trauern und ihnen helfen, durch diese schwierige Zeit zu kommen.“

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FOTO: TIM KROCHAK / DPA Zugriff an einer Tankstelle in der Gemeinde Enfield durch die Beamten der Royal Canadian Mounted Police. Zwölf Stunden hielt der Täter die Polizei in Atem.
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FOTO: ANDREW VAUGHAN / DPA Gerichtsme­diziner bergen eine Leiche.

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