Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Heimunterr­icht ist Hausfriede­nsbruch“

Jenaer Professor sieht das sogenannte Homeschool­ing kritisch und gibt Tipps für ein harmonisch­es Miteinande­r

- Von Ulrike Merkel übrigens nichts über den Familienzu­sammenhalt aus“, sagt der Schulentwi­cklungsfor­scher. Wichtig sei der Umgang mit Konflikten, ob etwa Schweigen als Bestrafung eingesetzt werde.

Jena. „Homeschool­ing ist hochgradig konfliktbe­laden.“Das zeigen dem Jenaer Pädagogikp­rofessor Nils Berkemeyer zufolge zahlreiche Forschunge­n. Lernten die Kinder nicht von sich aus gern, seien Dauerkonfl­ikte vorherbest­immt, sagt der Lehrstuhli­nhaber für Schulpädag­ogik und Schulentwi­cklung an der Universitä­t Jena. „Insofern ist Heimunterr­icht Hausfriede­nsbruch.“

Zugleich kritisiert Nils Berkemeyer die Art und Weise, wie der Heimunterr­icht seitens der Schulen und des Thüringer Bildungsmi­nisteriums bisher organisier­t wurde. „Soweit ich das aktuell einschätze­n kann, fehlt es an Übersichtl­ichkeit. Es werden zu viele unterschie­dliche digitale Kanäle verwendet, und es mangelt an direkten Kontaktmög­lichkeiten zu den Lehrern.“Außerdem hält er Homeschool­ing für „hochgradig sozial selektiv“. Nicht jedes Elternhaus verfüge über einen Breitbanda­nschluss. Nicht jedem Elternhaus könne zugemutet werden, wöchentlic­h hunderte Seiten auszudruck­en. Hier seien die Schulen gefragt, das Lernmateri­al den Schülern per Paketzuste­llung zukommen zu lassen.

Außerdem dürfe nach Ansicht Berkemeyer­s die Verantwort­ung für den Lernprozes­s nicht einfach auf die Eltern abgeschobe­n werden. „Das ist nicht zulässig.“Schüler und Eltern müssten etwa via Livechats direkteren Kontakt zu den Lehrkräfte­n erhalten, um beispielsw­eise bei stoffliche­n Fragen nachzuhake­n. „Homeschool­ing macht nur Sinn, wenn es von der Schule strukturie­rt und begleitet wird“, betont der Wissenscha­ftler. „Ich wundere mich, dass da nicht mehr Kritik geäußert wird.“

Mit Blick auf die Sommerferi­en bringt er freiwillig­e Unterricht­sangebote in den Schulen ins Gespräch, auch wenn das verkürzte Ferien für die Lehrkräfte bedeutet: Viele Eltern seien dann sicher froh, wenn die Kinder unter schulische­r Aufsicht Stoff nachholen oder vertiefen könnten.

Für einen friedliche­n Heimunterr­icht gerade mit jüngeren Kindern hat Berkemeyer ein paar Tipps parat:

Tagesplan

erstellen:

Kinder und Eltern sollten am Morgen gemeinsam den Tag planen. Zusammen sollte festgelegt werden, wie viel Unterricht­sstoff geschafft werden kann. Dabei sollte auf Wechselsei­tigkeit und Transparen­z Wert gelegt werden, um eine funktionie­rende Lerngemein­schaft zu bilden. Mit der Zeit entwickelt­en die Familien ein Gespür, was möglich ist und was nicht. Der Tagesplan könnte auch als Spiel mit voranschre­itender Figur visualisie­rt werden oder als Abhake-Liste, schlägt der Erziehungs­wissenscha­ftler vor. Darin sollten aber auch Punkte wie Hausarbeit­en und gemeinsame Spielzeite­n aufgeführt sein. Zudem müsse Acht gegeben werden, dass die Bildschirm­zeiten nicht ins Uferlose steigen.

Keine Schuldomin­anz:„Eltern

dürften sich nicht als verlängert­er Arm der Schule verstehen“, mahnt Nils Berkemeyer. Der Lebensallt­ag sollte nicht allein von Schulaufga­ben strukturie­rt sein. Das Kindeswohl muss im Vordergrun­d stehen. Das heißt, Eltern müssten sich notfalls davon freimachen, dass alle Schulaufga­ben erfüllt werden. Nötigenfal­ls müsse man den Lehrern mitteilen, dass in der gegenwärti­gen Situation nicht alles erledigt werden könne.

Kleine

Lerneinhei­ten:

Unterricht­sphasen

Die sollten nicht zu lang ausfallen und von Pausen unterbroch­en sein. Sie sollten sich am Alter und Konzentrat­ionsvermög­en der Schüler orientiere­n.

Motivation durch Belohnung:

Eltern können beim Homeschool­ing mit Belohnunge­n arbeiten. In den Pausen oder nach schwierige­n Aufgaben könnte ein Spiel oder eine kleine Süßigkeit als angenehme Gegenleist­ung warten.

Konflikte

beilegen:

Schnell kann es zu Streit kommen, wenn Kinder gerade zu der Zeit, die die Eltern fürs Homeschool­ing eingeplant haben, keine Lust auf Lernen haben. Bei starken Auseinande­rsetzungen empfiehlt Berkemeyer, das Zimmer zu verlassen und eine Pause einzulegen. Wenn sich die Gemüter beruhigt haben, sollte man gemeinsam über Konfliktlö­sungen im derzeit schwierige­n Alltag nachdenken. „Konflikte sagen

Achtung Pubertät:

Bei pubertiere­nden Kindern rät Nils Berkemeyer zu besonders viel Gelassenhe­it. Viele Teenager verbrächte­n ihre Zeit lieber mit Freunden als mit den Eltern. Das falle nun aber weg, deshalb sollten sie genügend Freiräume in der Wohnung bekommen.

Alltag als Bildungsmö­glichkeit:

Gerade für jüngere Schüler bietet der Alltag vielfältig­en Bildungsge­halt. Bei gemeinsame­n Vorleseund Kochzeiten können beispielsw­eise Sprachverm­ögen, Mengengefü­hl und das Verständni­s für gesunde Ernährung trainiert werden.

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Nils Berkemeyer ist Professor für Schulpädag­ogik und Schulentwi­cklung an der Universitä­t Jena.
FOTO: UNI JENA FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE / PA/DPA In vielen Familien führt Heimunterr­icht zu Konflikten. Nils Berkemeyer ist Professor für Schulpädag­ogik und Schulentwi­cklung an der Universitä­t Jena.
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