Die Stunde der Betriebsärzte
Arbeitsmediziner sind wichtige Ratgeber in der Corona-Krise. Auch auf ihre Planung kommt es an, wann Unternehmen wieder arbeiten
Berlin. Wann und wo sollen Mitarbeiter getestet werden, ob sie sich mit dem Coronavirus angesteckt haben? Wie werden Schichten eingeteilt, damit sich möglichst wenige Menschen begegnen? Auf Arbeitsmediziner und Betriebsärzte kommen viele neue Herausforderungen zu – sie sitzen als Ratgeber in Krisenstäben und sind gefragt, wenn es darum geht, Pandemiepläne zu aktualisieren, im Eiltempo überhaupt erst zu erstellen oder Hygieneregeln für den Fall der Wiedereröffnung von Geschäften zu prüfen.
Viele kleine Firmen wurden von der Pandemie überrumpelt, aber auch große Unternehmen haben Vorkehrungen oft schon vor langer Zeit getroffen und seither kaum überarbeitet. „Die Tatsache, dass das öffentliche Leben stillgelegt wird, um die Infektionskette zu unterbrechen, geht über jegliche Planung hinaus“, sagt Dirk-Matthias Rose. Er hat 2006 ein Handbuch zur Pandemieplanung in Unternehmen geschrieben und berät als Arbeitsmediziner Flugpersonal am Frankfurter Flughafen, aber auch Lehrende als wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Lehrergesundheit an der Uniklinik Mainz.
Flexibel sein und schnell neu planen, sobald es die Situation erfordert – das ist für Johannes Zylka die zentrale Erkenntnis für seinen Job in Corona-Zeiten. Der Internist und Arbeitsmediziner betreut als Werksarzt die Mitarbeiter des Chemikalienherstellers Oxea mit sechs Standorten in aller Welt. Hier wurden die Pandemiepläne erst 2019 aktualisiert. „Wir haben Checklisten für alles, was als Erstes geklärt werden muss, sobald die Lage ernst wird“, erläutert Zylka. Eine weitere Konsequenz der Neuorientierung: Die Werksfeuerwehr mitsamt Sanitätern erhielt direkt neue Schutzkleidung, um Infizierte behandeln zu können. „Schon Anfang Februar hatten wir Schwierigkeiten beim Bestellen – das muss künftig so früh wie möglich geschehen.“
Ein Werksarzt bei einem großen deutschen Automobilhersteller, der namentlich nicht genannt werden möchte, musste die Erfahrung machen, dass scheinbar Selbstverständliches wie Schutzmaterial nicht vorhanden ist: „Deshalb mag es in manchen Bereichen helfen, schon im Vorfeld Kernbereiche zu definieren, die möglichst lange laufen müssen – zum Beispiel die Energieversorgung – und dort spezielle Vorkehrungen zu treffen.“Sein Credo, um Mitarbeitern Ängste zu nehmen: „Sehr viel kommunizieren, auf allen verfügbaren Kanälen.“
Noch bevor es offizielle Quarantäne-Regeln für Urlaubsrückkehrer aus Risikogebieten gab, hatten Johannes Zylka und der Krisenstab des Chemieunternehmens alle betreffenden Mitarbeiter aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Zylka: „So gab es gar keinen Kontakt zu anderen Kollegen und damit anschließend auch keine Corona-Verdachtsfälle.“Im nächsten Schritt baute man die Kapazitäten für diejenigen aus, die von zu Hause arbeiten – notfalls wurden private PCs per Fernsteuerung umgerüstet. Und die Sicherheitsfachkraft empfahl schriftlich, wie der provisorische Arbeitsplatz ergonomisch eingerichtet wird.
Allerdings kommt ein Chemiewerk niemals ganz zur Ruhe. Das heißt: In Schichten treffen derzeit wenige Kollegen zusammen – „aber ohne die üblichen persönlichen Übergabe-Besprechungen“, betont der Arbeitsmediziner. Stattdessen werden wichtige Informationen zum Beispiel schriftlich im Schichtbuch festgehalten. Sobald das eine Grüppchen Arbeiter die Tür des Leitstandes im Werk schließt, betritt die nächste Gruppe den Raum – stets die gleichen Menschen arbeiten im Abstand von anderthalb Metern zusammen. Die Kantine ist zum Take-away-Betrieb mit Tagesgerichten umfunktioniert. Gegessen wird ausnahmsweise allein und meist am Arbeitsplatz. „Jede Woche tagt die Pandemie-Planungsgruppe und überprüft, ob Regelungen angepasst werden müssen“, sagt Zylka.
Expertenwissen auf mehrere Köpfe verteilen
Das kommt den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsund Umweltmedizin (DGAUM) entgegen, die den Betriebsarzt in diesen Zeiten als medizinischen Lotsen sieht: „Es geht darum, individuelle Lösungen zu finden“, erklärt DGAUM-Präsident Hans Drexler, der den Lehrstuhl für Arbeitsmedizin an der Uniklinik Erlangen-Nürnberg leitet. Er hat als erste Maßnahme eine Teststelle für möglicherweise infizierte Mitarbeiter des Uniklinikums abseits des Publikumsverkehrs einrichten lassen. Gemeinsam mit seinen Kollegen bereitet der Professor derzeit ein Semester mit digitalen Lernangeboten für die Studenten vor.
Auch in Unternehmen werden Überlegungen angestellt, wie und wann der Betrieb wieder anlaufen kann. Dirk-Matthias Rose rät, in geplanten Schritten den Betrieb wieder aufzunehmen. Denn: „Covid-19 wird nicht verschwunden sein.“
Aus arbeitsmedizinischer Sicht müsse man sich fragen: Welche Experten sind dem Unternehmen geblieben? Wen holt man als Erstes in die Firma zurück? In dieser Situation sollten laut Rose ältere Mitarbeiter, die möglicherweise HerzKreislauf-Erkrankungen, eine Immunschwäche oder Diabetes haben, erst später vor Ort hinzugezogen werden: „Die Gefahr einer Ansteckung ist weiterhin groß, sie kann auch den Unternehmensleiter selbst betreffen.“Rose: „Spätestens jetzt sollte man überlegen, Expertenwissen auf mehrere Köpfe zu verteilen. Damit künftig kein Knowhow verloren geht, wenn jemand erkrankt oder nicht am Arbeitsplatz sein kann.“Auch Impfungen sollten in den Betriebsalltag aufgenommen werden, empfiehlt Rose. Denn Betriebsärzte dürfen laut dem Präventionsgesetz nicht nur gegen die Grippe, sondern auch gegen alle anderen Erkrankungen impfen.