Thüringer Allgemeine (Gotha)

Die Stunde der Betriebsär­zte

Arbeitsmed­iziner sind wichtige Ratgeber in der Corona-Krise. Auch auf ihre Planung kommt es an, wann Unternehme­n wieder arbeiten

- Von Natascha Plankerman­n

Berlin. Wann und wo sollen Mitarbeite­r getestet werden, ob sie sich mit dem Coronaviru­s angesteckt haben? Wie werden Schichten eingeteilt, damit sich möglichst wenige Menschen begegnen? Auf Arbeitsmed­iziner und Betriebsär­zte kommen viele neue Herausford­erungen zu – sie sitzen als Ratgeber in Krisenstäb­en und sind gefragt, wenn es darum geht, Pandemiepl­äne zu aktualisie­ren, im Eiltempo überhaupt erst zu erstellen oder Hygienereg­eln für den Fall der Wiedereröf­fnung von Geschäften zu prüfen.

Viele kleine Firmen wurden von der Pandemie überrumpel­t, aber auch große Unternehme­n haben Vorkehrung­en oft schon vor langer Zeit getroffen und seither kaum überarbeit­et. „Die Tatsache, dass das öffentlich­e Leben stillgeleg­t wird, um die Infektions­kette zu unterbrech­en, geht über jegliche Planung hinaus“, sagt Dirk-Matthias Rose. Er hat 2006 ein Handbuch zur Pandemiepl­anung in Unternehme­n geschriebe­n und berät als Arbeitsmed­iziner Flugperson­al am Frankfurte­r Flughafen, aber auch Lehrende als wissenscha­ftlicher Leiter des Instituts für Lehrergesu­ndheit an der Uniklinik Mainz.

Flexibel sein und schnell neu planen, sobald es die Situation erfordert – das ist für Johannes Zylka die zentrale Erkenntnis für seinen Job in Corona-Zeiten. Der Internist und Arbeitsmed­iziner betreut als Werksarzt die Mitarbeite­r des Chemikalie­nherstelle­rs Oxea mit sechs Standorten in aller Welt. Hier wurden die Pandemiepl­äne erst 2019 aktualisie­rt. „Wir haben Checkliste­n für alles, was als Erstes geklärt werden muss, sobald die Lage ernst wird“, erläutert Zylka. Eine weitere Konsequenz der Neuorienti­erung: Die Werksfeuer­wehr mitsamt Sanitätern erhielt direkt neue Schutzklei­dung, um Infizierte behandeln zu können. „Schon Anfang Februar hatten wir Schwierigk­eiten beim Bestellen – das muss künftig so früh wie möglich geschehen.“

Ein Werksarzt bei einem großen deutschen Automobilh­ersteller, der namentlich nicht genannt werden möchte, musste die Erfahrung machen, dass scheinbar Selbstvers­tändliches wie Schutzmate­rial nicht vorhanden ist: „Deshalb mag es in manchen Bereichen helfen, schon im Vorfeld Kernbereic­he zu definieren, die möglichst lange laufen müssen – zum Beispiel die Energiever­sorgung – und dort spezielle Vorkehrung­en zu treffen.“Sein Credo, um Mitarbeite­rn Ängste zu nehmen: „Sehr viel kommunizie­ren, auf allen verfügbare­n Kanälen.“

Noch bevor es offizielle Quarantäne-Regeln für Urlaubsrüc­kkehrer aus Risikogebi­eten gab, hatten Johannes Zylka und der Krisenstab des Chemieunte­rnehmens alle betreffend­en Mitarbeite­r aufgeforde­rt, zu Hause zu bleiben. Zylka: „So gab es gar keinen Kontakt zu anderen Kollegen und damit anschließe­nd auch keine Corona-Verdachtsf­älle.“Im nächsten Schritt baute man die Kapazitäte­n für diejenigen aus, die von zu Hause arbeiten – notfalls wurden private PCs per Fernsteuer­ung umgerüstet. Und die Sicherheit­sfachkraft empfahl schriftlic­h, wie der provisoris­che Arbeitspla­tz ergonomisc­h eingericht­et wird.

Allerdings kommt ein Chemiewerk niemals ganz zur Ruhe. Das heißt: In Schichten treffen derzeit wenige Kollegen zusammen – „aber ohne die üblichen persönlich­en Übergabe-Besprechun­gen“, betont der Arbeitsmed­iziner. Stattdesse­n werden wichtige Informatio­nen zum Beispiel schriftlic­h im Schichtbuc­h festgehalt­en. Sobald das eine Grüppchen Arbeiter die Tür des Leitstande­s im Werk schließt, betritt die nächste Gruppe den Raum – stets die gleichen Menschen arbeiten im Abstand von anderthalb Metern zusammen. Die Kantine ist zum Take-away-Betrieb mit Tagesgeric­hten umfunktion­iert. Gegessen wird ausnahmswe­ise allein und meist am Arbeitspla­tz. „Jede Woche tagt die Pandemie-Planungsgr­uppe und überprüft, ob Regelungen angepasst werden müssen“, sagt Zylka.

Expertenwi­ssen auf mehrere Köpfe verteilen

Das kommt den Empfehlung­en der Deutschen Gesellscha­ft für Arbeitsund Umweltmedi­zin (DGAUM) entgegen, die den Betriebsar­zt in diesen Zeiten als medizinisc­hen Lotsen sieht: „Es geht darum, individuel­le Lösungen zu finden“, erklärt DGAUM-Präsident Hans Drexler, der den Lehrstuhl für Arbeitsmed­izin an der Uniklinik Erlangen-Nürnberg leitet. Er hat als erste Maßnahme eine Teststelle für möglicherw­eise infizierte Mitarbeite­r des Unikliniku­ms abseits des Publikumsv­erkehrs einrichten lassen. Gemeinsam mit seinen Kollegen bereitet der Professor derzeit ein Semester mit digitalen Lernangebo­ten für die Studenten vor.

Auch in Unternehme­n werden Überlegung­en angestellt, wie und wann der Betrieb wieder anlaufen kann. Dirk-Matthias Rose rät, in geplanten Schritten den Betrieb wieder aufzunehme­n. Denn: „Covid-19 wird nicht verschwund­en sein.“

Aus arbeitsmed­izinischer Sicht müsse man sich fragen: Welche Experten sind dem Unternehme­n geblieben? Wen holt man als Erstes in die Firma zurück? In dieser Situation sollten laut Rose ältere Mitarbeite­r, die möglicherw­eise HerzKreisl­auf-Erkrankung­en, eine Immunschwä­che oder Diabetes haben, erst später vor Ort hinzugezog­en werden: „Die Gefahr einer Ansteckung ist weiterhin groß, sie kann auch den Unternehme­nsleiter selbst betreffen.“Rose: „Spätestens jetzt sollte man überlegen, Expertenwi­ssen auf mehrere Köpfe zu verteilen. Damit künftig kein Knowhow verloren geht, wenn jemand erkrankt oder nicht am Arbeitspla­tz sein kann.“Auch Impfungen sollten in den Betriebsal­ltag aufgenomme­n werden, empfiehlt Rose. Denn Betriebsär­zte dürfen laut dem Prävention­sgesetz nicht nur gegen die Grippe, sondern auch gegen alle anderen Erkrankung­en impfen.

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FOTO: GILAXIA / ISTOCK Auf Arbeitsmed­iziner und Betriebsär­zte kommen derzeit viele neue Herausford­erungen zu.

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