Drinnen ist das neue Draußen Aus der Seniorenredaktion
Menschen fühlen sich in den eigenen vier Wänden sicher und genießen die private Idylle
Erfurt. Ich bin hin und wieder genervt von ständig neuen Anglizismen, die ich nicht verstehe. Aber zum Glück gibt mir Google gerne Auskunft. Homing ist der neue Trend, alles zu Hause zu machen. Arbeiten und Freizeit. Ich finde das Thema interessant, da es mich und viele andere zur Zeit betrifft.
Homing liegt seit Anfang der 2000er-Jahre voll im Trend. Das Zuhausesein steht im Mittelpunkt, wird aufgewertet und zum neuen Statussymbol. Freunde einladen, gemeinsam Kochen, einen Spieleabend veranstalten, gemütlich ein Glas Wein trinken oder auch Kultur genießen. Diesen Gedanken, sich mit Freunden in einem schönen häuslichen Ambiente zu treffen, pflegen wir schon sehr lange.
Das setzt voraus, dass ich mir Gedanken mache, was man alles Schönes zu Hause machen kann. Und ich habe viele Ideen. Beim Homing fühlen sich die Menschen in ihren eigenen vier Wänden am wohlsten und am sichersten gegen eine immer bedrohlicher werdende Außenwelt. Globalisierung, Digitalisierung, das Fremde generell. Sie glauben so, allen Gefahren besser aus dem Weg gehen zu können.
Das sich Zurückziehen ins Lauschig-heimelige ist Trend und hat Stil. Zumal diese private Idylle zunehmend von Designern gestaltet wird. Gemütlichkeit wird salonfähig und hat so gar nichts mehr mit kleingeistiger Abschottung zu tun. Manche sprechen von einem „Rückzug der Verängstigten“andere von „German Angst“. Und nun ist die Bedrohung von außen da, Corona ist Realität. Eigentlich genau jener befürchtete Fall, warum Homing seit Jahren im Trend liegt.
Eine Gefahr droht von außen. Das gewohnte Miteinander ist eingeschränkt, da die Ansteckungsgefahr zu groß ist. Die Lage ist weltweit angespannt, auch bei uns. Wir müssen zu Hause bleiben, und ich kann endlich Dinge tun oder lassen, ganz wie es mir gefällt. Ich habe keine Verpflichtungen, bei denen ich das Haus verlassen muss. Für mich eine nicht unangenehme Art, mein Leben täglich zu gestalten. Wir verlassen das Haus nur, um Lebensmittel zu kaufen. Unsere „lustige Kostümierung“, Handschuhe und Mundschutz, sorgen dabei für ein heiteres Schmunzeln beim Verlassen des Hauses. Ansonsten suche und finde ich ganz viele Möglichkeiten, keine Langeweile aufkommen zu lassen.
Und das gelingt mir nun schon in der sechsten Woche. Schließlich bin ich nicht in einer Kreativ-DenkQuarantäne. Ein bisschen ängstlich werde ich nur dann, wenn ich mir zu viele Corona-Nachrichten anhöre. Sie vermitteln mir zu oft das Bild einer Hölle um mich herum. Marcel
Fratscher, Chef des DIW kritisiert hierzu: „Das Schädlichste am Coronavirus ist die Überreaktion, ... die Qualität der Corona-Berichte, viel zu hoch und dramatisch mit zu schockierenden Bildern.“
Die Folgen der Corona-Krise sind ungleich verteilt und alle sind nicht gleichermaßen betroffen. Fehlende Einnahmen zum Beispiel, „Decke auf den Kopf“in der Wohnung, Kinderbetreuung oder der drohende Arbeitsplatzverlust. Nichts trifft für mich zu. Aber ich gehöre alterstechnisch zu der Zielgruppe, bei der Corona am konsequentesten angreift. Insofern bin ich für jeden Verhaltenshinweis dankbar.
Die immer lauter werdende Diskussion um die zu unrecht eingeschränkten Grundrechte und die Heftigkeit, mit der die Lockerung aller Maßnahmen gefordert wird, kann ich nicht verstehen. Wenn das Wohl aller bedroht ist, auch meines, begrüße ich alle Einschränkungen durch die Politik. Befürchtungen, dass mein Grundrecht auf Freiheit dauerhaft, gar für immer auf der Kippe stehen soll, habe ich nicht.
Dafür kenne ich die Unfreiheit zu gut! Warum ist das Zuhausesein und -bleiben, plötzlich kein Vergnügen mehr? Meine Handlungsfreiheit ist in der Tat bereits die sechste Woche stark eingeschränkt. Das zwingt mich darüber nachzudenken, was ich wirklich benötige und worauf ich verzichten kann, auch nach der Corona-Krise.
Die Erkenntnis wiederum sehe ich als meinen persönlichen Gewinn. Mangelnde soziale Kontakte beheben wir mit Gesprächen über den Gartenzaun mit angemessenem Abstand und im aktiven täglichen Miteinander per Telefon, EMail und Facetime. Um das Coronavirus an seiner Ausbreitung zu hindern, bleibe ich gerne zu Hause und genieße mein Homing.
Soweit meine Überlegungen zu Homing, zum Zuhausebleiben und dem Verlust meiner Grundrechte. Aber vielleicht hat Google mit der Begriffserklärung „Homing“auch nur den „Zielflug der Brieftauben“gemeint. Dann waren meine ganzen Überlegungen umsonst . . .