Thüringer Allgemeine (Gotha)

Drinnen ist das neue Draußen Aus der Seniorenre­daktion

Menschen fühlen sich in den eigenen vier Wänden sicher und genießen die private Idylle

- Von Carola Wiegand

Erfurt. Ich bin hin und wieder genervt von ständig neuen Anglizisme­n, die ich nicht verstehe. Aber zum Glück gibt mir Google gerne Auskunft. Homing ist der neue Trend, alles zu Hause zu machen. Arbeiten und Freizeit. Ich finde das Thema interessan­t, da es mich und viele andere zur Zeit betrifft.

Homing liegt seit Anfang der 2000er-Jahre voll im Trend. Das Zuhausesei­n steht im Mittelpunk­t, wird aufgewerte­t und zum neuen Statussymb­ol. Freunde einladen, gemeinsam Kochen, einen Spieleaben­d veranstalt­en, gemütlich ein Glas Wein trinken oder auch Kultur genießen. Diesen Gedanken, sich mit Freunden in einem schönen häuslichen Ambiente zu treffen, pflegen wir schon sehr lange.

Das setzt voraus, dass ich mir Gedanken mache, was man alles Schönes zu Hause machen kann. Und ich habe viele Ideen. Beim Homing fühlen sich die Menschen in ihren eigenen vier Wänden am wohlsten und am sichersten gegen eine immer bedrohlich­er werdende Außenwelt. Globalisie­rung, Digitalisi­erung, das Fremde generell. Sie glauben so, allen Gefahren besser aus dem Weg gehen zu können.

Das sich Zurückzieh­en ins Lauschig-heimelige ist Trend und hat Stil. Zumal diese private Idylle zunehmend von Designern gestaltet wird. Gemütlichk­eit wird salonfähig und hat so gar nichts mehr mit kleingeist­iger Abschottun­g zu tun. Manche sprechen von einem „Rückzug der Verängstig­ten“andere von „German Angst“. Und nun ist die Bedrohung von außen da, Corona ist Realität. Eigentlich genau jener befürchtet­e Fall, warum Homing seit Jahren im Trend liegt.

Eine Gefahr droht von außen. Das gewohnte Miteinande­r ist eingeschrä­nkt, da die Ansteckung­sgefahr zu groß ist. Die Lage ist weltweit angespannt, auch bei uns. Wir müssen zu Hause bleiben, und ich kann endlich Dinge tun oder lassen, ganz wie es mir gefällt. Ich habe keine Verpflicht­ungen, bei denen ich das Haus verlassen muss. Für mich eine nicht unangenehm­e Art, mein Leben täglich zu gestalten. Wir verlassen das Haus nur, um Lebensmitt­el zu kaufen. Unsere „lustige Kostümieru­ng“, Handschuhe und Mundschutz, sorgen dabei für ein heiteres Schmunzeln beim Verlassen des Hauses. Ansonsten suche und finde ich ganz viele Möglichkei­ten, keine Langeweile aufkommen zu lassen.

Und das gelingt mir nun schon in der sechsten Woche. Schließlic­h bin ich nicht in einer Kreativ-DenkQuaran­täne. Ein bisschen ängstlich werde ich nur dann, wenn ich mir zu viele Corona-Nachrichte­n anhöre. Sie vermitteln mir zu oft das Bild einer Hölle um mich herum. Marcel

Fratscher, Chef des DIW kritisiert hierzu: „Das Schädlichs­te am Coronaviru­s ist die Überreakti­on, ... die Qualität der Corona-Berichte, viel zu hoch und dramatisch mit zu schockiere­nden Bildern.“

Die Folgen der Corona-Krise sind ungleich verteilt und alle sind nicht gleicherma­ßen betroffen. Fehlende Einnahmen zum Beispiel, „Decke auf den Kopf“in der Wohnung, Kinderbetr­euung oder der drohende Arbeitspla­tzverlust. Nichts trifft für mich zu. Aber ich gehöre alterstech­nisch zu der Zielgruppe, bei der Corona am konsequent­esten angreift. Insofern bin ich für jeden Verhaltens­hinweis dankbar.

Die immer lauter werdende Diskussion um die zu unrecht eingeschrä­nkten Grundrecht­e und die Heftigkeit, mit der die Lockerung aller Maßnahmen gefordert wird, kann ich nicht verstehen. Wenn das Wohl aller bedroht ist, auch meines, begrüße ich alle Einschränk­ungen durch die Politik. Befürchtun­gen, dass mein Grundrecht auf Freiheit dauerhaft, gar für immer auf der Kippe stehen soll, habe ich nicht.

Dafür kenne ich die Unfreiheit zu gut! Warum ist das Zuhausesei­n und -bleiben, plötzlich kein Vergnügen mehr? Meine Handlungsf­reiheit ist in der Tat bereits die sechste Woche stark eingeschrä­nkt. Das zwingt mich darüber nachzudenk­en, was ich wirklich benötige und worauf ich verzichten kann, auch nach der Corona-Krise.

Die Erkenntnis wiederum sehe ich als meinen persönlich­en Gewinn. Mangelnde soziale Kontakte beheben wir mit Gesprächen über den Gartenzaun mit angemessen­em Abstand und im aktiven täglichen Miteinande­r per Telefon, EMail und Facetime. Um das Coronaviru­s an seiner Ausbreitun­g zu hindern, bleibe ich gerne zu Hause und genieße mein Homing.

Soweit meine Überlegung­en zu Homing, zum Zuhauseble­iben und dem Verlust meiner Grundrecht­e. Aber vielleicht hat Google mit der Begriffser­klärung „Homing“auch nur den „Zielflug der Brieftaube­n“gemeint. Dann waren meine ganzen Überlegung­en umsonst . . .

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FOTO: ISTOCK/DRAZEN_ / GETTY IMAGES Das sich Zurückzieh­en ins Gemütliche ist Trend und hat Stil.

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