Thüringer Allgemeine (Gotha)

Pop und freie Liebe

Die „Bravo“– über Jahrzehnte das Zentralorg­an der Teenies – öffnet ihr Archiv und lässt Erinnerung­en an Musik-Idole, wilde Frisuren und Dr. Sommer wach werden

- Von Oliver Stöwing

Berlin. Nach einer Woche war das Heft meist völlig zerfledder­t, denn die „Bravo“war heiße Ware, ging folglich durch viele Hände und musste oftmals unter Kopfkissen versteckt werden: Bei den meisten Eltern galt die Jugendzeit­schrift als anrüchig. Für die Teenies der Bundesrepu­blik aber war sie eine Verbündete, „ein Fenster zur fernen Showwelt, zu meinen Idolen wie AC/DC“, erinnert sich Alex Gernandt.

Der Journalist arbeitete von 1988 bis 2013 für die „Bravo“, war Chefreport­er und Chefredakt­eur: „Aber die Aufklärung­sseiten habe ich als Leser früher auch nicht achtlos überblätte­rt.“

Jetzt öffnet die Zeitschrif­t ihr Archiv und stellt die Ausgaben ihrer goldenen Ära von 1956 bis 1994 ins Internet – um in der Corona-Krise „Licht in dunkle Zeiten“zu bringen. „Das ist wie ein Trip in vergangene Zeiten, da werden spannende Erinnerung­en wach“, sagt Gernandt. Es ist eine Reise durch Musikgesch­ichte, Kulturgesc­hichte, Frisurenge­schichte, durch Sehnsüchte und Ängste. Es sind 38 Jahre, in denen die Ausrufezei­ten und die Superlativ­e zunahmen. Viele der Teenieidol­e, etwa Uschi Glas, Peter Maffay oder Nena, sind heute würdige Altstars, andere sind längst vergessen.

Am 26. August 1956 erschien die erste Ausgabe. Marilyn Monroe war auf dem Cover. „Haben auch Marilyns Kurven geheiratet?“, heißt es kryptisch dazu. Der angekündig­te Fortsetzun­gsroman „Gepeinigt bis aufs Blut“irritiert, die 50er hatte man sich friedliebe­nder vorgestell­t. Über Sex wurde mit den Eltern oder in der Schule nicht gesprochen, die „Bravo“übernahm die Aufklärung.

„Sie nahm die Jugendlich­en ernst“, betont Gernandt.

Und, ja, die „Bravo“war auch lange die einzige Möglichkei­t, zu schauen, wie ein anderer Mensch nackt aussieht. So wie Vater den „Playboy“nicht nur wegen der Interviews kaufte, las man die „Bravo“nicht nur wegen des BackstageR­eports über Kajagoogoo. 1972 wurden zwei Ausgaben der „Bravo“als jugendgefä­hrdend eingestuft: „Die sexuelle Reife allein berechtigt nicht zur Inbetriebn­ahme der Geschlecht­sorgane“, stand in der Begründung.

Das Geschlecht­erbild von früher wirkt heute bedenklich

„Dass Liebende und Eheleute auch dann lieben können, wenn sie keine Kinder zeugen wollen, halten Jugendlich­e immer noch für etwas Verbotenes. Anderersei­ts können sie nicht verstehen, dass man überall auf Fotos und in Filmen nackte Menschen sehen darf“, lautet die Einleitung zur „Bravo“-Serie „Das erste Erlebnis“in der Ausgabe vom 19. März 1972.

Solchen Doppelbots­chaften und einer solchen Spannung zwischen sexualisie­rter Umwelt und eigener

Scham sind Jugendlich­e heute mehr denn je ausgesetzt. „Im Grunde sind die Fragen und Sorgen der Jugendlich­en über Jahre die gleichen geblieben“, sagt die Sozialpäda­gogin Jutta Stiehler, die 16 Jahre im „Dr. Sommer“-Team der „Bravo“war.

Hinter den meisten Fragen stecke die Befürchtun­g, „nicht normal“zu sein und der Wunsch dazuzugehö­ren. „Und dass sie sich informiere­n wollten, hieß nicht, dass sie alles auch gleich ausprobier­en wollten.“

Das Geschlecht­erbild, das bis in die 80er-Jahre vermittelt wurde, erscheint dagegen überholt wie bedenklich: Jungs sind lässig, aber gefährlich. Mädchen bringen sich durch ihre Naivität und falsche Signale in Schwierigk­eiten.

So schilderte 1972 eine 15-Jährige eine Begegnung mit einem jungen Mann an einem Badesee: „Auf einmal lag er über mir und fing komische Sachen an.“Aufklärer „Dr. Alexander Korff“schrieb dazu: „Der sogenannte Kavalier hat ein hilfloses und dankbares Mädchen ausgenutzt.“Der Begriff Vergewalti­gung fällt nicht. „Ein Mädchen wurde zur Liebe gezwungen“heißt ein weiterer Artikel – heute undenkbar.

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