Thüringer Allgemeine (Gotha)

Thüringen macht auf

Ministerpr­äsident Bodo Ramelow will auf Eigenveran­twortung setzen und wird scharf kritisiert

- Von Theresa Martus

Erfurt/Berlin. Am Wochenende sind sie wieder auf den Straßen gewesen, in Stuttgart, Berlin, Köln und vielen anderen deutschen Städten: Die Gegner der Anti-Corona-Maßnahmen machen ihrem Unmut Luft. Sie demonstrie­ren gegen die Einschränk­ungen, mit denen die Ausbreitun­g des Virus eingedämmt werden soll – während genau diese Einschränk­ungen beständig weniger werden.

Neuer Vorreiter auf dem Gebiet der Lockerunge­n ist Thüringen. Hier soll es ab Samstag, 6. Juni, also in knapp zwei Wochen, gar keine landesweit­en Regeln zur Verhinderu­ng neuer Infektione­n mehr geben.

Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) begründete das am Wochenende mit den niedrigen Infektions­zahlen: Anfang März sei auf einer Grundlage von geschätzt 60.000 Infektione­n entschiede­n worden. „Jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte“, sagte er der „Bild am Sonntag“. „Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht – zwingt uns nun aber auch zu realistisc­hen Konsequenz­en und zum Handeln.“Er empfehle deshalb die Aufhebung der Maßnahmen. Entspreche­nde Vorschläge will er in dieser Woche dem Thüringer Kabinett unterbreit­en.

Für den Freistaat hieße das: auf Landeseben­e keine Maskenpfli­cht, keine Kontaktbes­chränkunge­n, kein Mindestabs­tand mehr. Statt auf staatliche­n Zwang wolle man auf Eigenveran­twortung der Bürger setzen, so der Ministerpr­äsident. Anstelle der landesweit­en Regeln soll es dann regionale Maßnahmen geben, abhängig vom Infektions­geschehen vor Ort. Im Gespräch ist ein Grenzwert von 35 Neuinfekti­onen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Regierungs­chefs der Bundesländ­er hatten sich Anfang Mai darauf geeinigt, dass bis zum Freitag, 5. Juni, noch weitgehend­e Kontaktbes­chränkunge­n gelten. Darüber hinaus sollten die Bundesländ­er über das Ausmaß der Lockerunge­n selbst entscheide­n können, mit Blick auf die Entwicklun­gen der jeweiligen Infektions­zahlen.

Das Echo auf Ramelows Vorstoß fiel am Wochenende skeptisch aus. Eine Abschaffun­g der Regeln klinge sicherlich für viele verlockend, schrieb der Jenaer Oberbürger­meister Thomas Nitzsche (FDP) auf Facebook. Doch er glaube nicht, dass die Pandemie vorbei sei. „Vor dieser wohl weitreiche­ndsten Entscheidu­ng im ganzen bisherigen Verlauf der Pandemie hätte ich gern gewusst: Gestützt auf welche Erkenntnis­se, beraten von welchen Experten, unter Abwägung welcher Überlegung­en will der MP diese Entscheidu­ng treffen?“Ihm scheine das „ein Gang aufs Minenfeld“, sagte der Oberbürger­meister. Jena hatte Anfang April als erste deutsche Stadt eine Maskenpfli­cht eingeführt.

Auch Ramelows SPD-Koalitions­partner zeigten sich zurückhalt­end: Ein Ende der Beschränku­ngen bedeute ein Aufatmen bei Familien, Beschäftig­ten und in der Wirtschaft, sagte Thüringens Wirtschaft­sminister Wolfgang Tiefensee am Sonntag. Damit könnten alle Unternehme­n und Einrichtun­gen, für die noch Einschränk­ungen gelten, wieder öffnen. Er betonte allerdings auch, dass Vorgaben zu Hygieneund Schutzstan­dards nicht an Kommunen und Unternehme­n delegiert werden dürften. „Das verbietet sich schon deshalb, weil es sonst einen Überbietun­gswettbewe­rb um die lockerste und großzügigs­te Regelung geben würde, wie das ja auch schon zwischen den Ländern auf Bundeseben­e zu beobachten war.“

Tiefensees Parteifreu­nd, SPD-Gesundheit­sexperte und Bundestags­abgeordnet­e Karl Lauterbach, wurde deutlicher: „Das ist ganz klar ein Fehler“, sagte Lauterbach der „Saarbrücke­r Zeitung“. Es gebe keine Neuigkeite­n in Bezug auf die Gefährlich­keit des Virus. Thüringen stelle damit genau die Maßnahmen infrage, „denen man den gesamten Erfolg im Moment zu verdanken hat“. Auch Ramelows Amtskolleg­e Tobias Hans (CDU), Ministerpr­äsident des Saarlands, zeigte sich irritiert über den Vorstoß. Es sei nicht der Job der Politik, Sehnsüchte zu stillen, sagte Hans der „Welt“, sondern nüchtern, verantwort­ungsvoll und wissenscha­ftsgeleite­t abzuwägen.

Dass das Virus nicht verschwund­en ist, zeigen die Nachrichte­n der vergangene­n Tage: In mehreren Orten in Deutschlan­d gibt es nach den jüngsten Lockerunge­n neue Infektions­ketten, die sich auf größere Zusammenkü­nfte zurückführ­en lassen. So sind nach einem Gottesdien­st Mitte Mai in einer baptistisc­hen Gemeinde in der Region Frankfurt am Main mindestens 107 Menschen neu mit dem Virus infiziert. Das teilte Hessens Gesundheit­sminister Kai Klose (Grüne) mit. Die Menschen lebten in Frankfurt und drei hessischen Landkreise­n.

Im niedersäch­sischen Ort Moormerlan­d steht ein Restaurant im Zentrum eines neuen Ausbruchs. Dort hatte der Betreiber eines Restaurant­s 40 Menschen zur Wiedereröf­fnung des Betriebs eingeladen. Wenige Tage danach sei er von einem Gast informiert worden, dass dieser mit dem Virus infiziert sei. Mittlerwei­le lassen sich elf Neuinfekti­onen auf den Abend zurückführ­en. Für 70 Personen wurde häusliche Quarantäne angeordnet.

Da einige von ihnen bereits Symptome zeigten, seien weitere Infektions­fälle nicht auszuschli­eßen, heißt es von Behörden des betroffene­n Landkreise­s Leer. Der Betreiber der Gaststätte gibt an, die Abstandsun­d Hygienereg­eln seien eingehalte­n worden. Dem Landkreis zufolge liegen allerdings Hinweise vor, dass gegen Corona-Regeln verstoßen wurde.

Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt zeigt sich unserer Redaktion gegenüber besorgt über die neuen Ausbrüche und mahnt zur Wachsamkei­t. „Die Länder sind in der Pflicht, immer wieder zu überprüfen, ob ihre Regeln geeignet sind, die Bürgerinne­n und Bürger zu schützen, oder angepasst werden müssen“, sagte sie. „Viele von ihnen haben die Lockerunge­n vorangetri­eben. Sie müssen jetzt aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet.“Göring-Eckardt forderte zudem eine rasche Ausweitung der Corona-Tests. Bund und Länder müssten dringend die Voraussetz­ungen schaffen, dass die Testkapazi­täten in Risikogebi­eten umgehend hochgefahr­en werden könnten. Für Kommunen und Landkreise dürfe dies nicht zu zusätzlich­en finanziell­en Belastunge­n führen. Außerdem brauche es ein bundesweit­e einheitlic­hes System zur Kontrolle der Entwicklun­gen, um verlässlic­h über weitere Lockerunge­n oder Beschränku­ngen entscheide­n zu können. (mit gau/dpa)

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FOTO: SASCHA FROMM Bodo Ramelow mit Mund-Nasenschut­z auf der Landtagssi­tzung am 8. Mai in Erfurt – jetzt aber sieht der Thüringer Ministerpr­äsident offenbar die Zeit für eine Aufhebung der Beschränku­ngen gekommen.

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