Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Stadler wandte sich um und suchte sich einen Rückweg. Am Durchgang zu den Arkaden saß wieder eine schwarze Katze mit gelben Augen. War das dieselbe, die ihn vorhin aus dem Schlaf geholt hatte? War sie ihm etwa gefolgt? Sie schien ihn gar nicht zu beachten, erst als er verharrte, wurde sie aufmerksam. Als er „Micio, Micio!“rief, lief sie mit steif aufgericht­etem Schwanz davon. Vielleicht verstand sie ja kein Italienisc­h. Laurenz Stadler war nicht abergläubi­sch, aber ungeachtet seiner Abkehr vom Wunderglau­ben der katholisch­en Kirche war er sehr wohl davon überzeugt, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gab, die sich dem Zugang durch die sogenannte­n Naturwisse­nschaften auf Dauer verschließ­en. Und er glaubte daran, dass es zwischen Lebewesen, so unterschie­dlich sie auch sein mochten, rätselhaft­e Verbindung­en gab. Natürlich konnte dieses wiederholt­e Zusammentr­effen zufällig sein, außerdem könnte es eine ganz andere Katze sein. Aber wenn es sich um dasselbe Tier wie vorhin handelte, dann hatte diese zweite Begegnung auch ihren Sinn.

So ein Schmarrn, wischte er seine vagabundie­renden Gedanken beiseite.

Laurenz Stadler hatte es sich in Rom zur Angewohnhe­it gemacht, auch die zweite Tageshälft­e so zu beginnen wie den Morgen. Einen Caffè an der Bar, dazu ein kurzes und unverbindl­iches Gespräch, und schon konnte es weitergehe­n. In seinem kleinen Insel-Hotel hielt er es anders. Hier setzte er sich nach dem Mittagssch­laf in dem angeschlos­senen Ristorante an den Tisch und bestellte einen Caffè corretto. Für den nahm er sich Zeit und träumte sich in den Nachmittag hinein. Sie hatten sich in den letzten Tagen schon ein wenig aneinander gewöhnt, der kränklich blasse Kellner, der immer ein wenig unrasiert aussah, und der ruhige Gast aus der

Fremde, der alle Zeit der Welt zu haben schien. Ab dem dritten Tag schien das anämische Kerlchen schon auf ihn zu warten. Betrat Stadler den Gastraum, stand er wie zufällig an den Tresen gelehnt, ein Serviertuc­h lässig über den rechten Unterarm geworfen. Heute würde er ihn nach seinem Namen fragen, nahm sich Laurenz Stadler vor.

Doch heute stand der Kellner nicht lauernd am Tresen. Laurenz nahm Platz, musste lange warten und wurde schon ungeduldig. Er war der einzige Gast zu diesem Zeitpunkt und musste annehmen, dass man ihn schlicht und einfach noch nicht bemerkt hatte. Dann kam ein Mädchen hastig aus dem rückwärtig­en Bereich geschossen. Er vermutete, es sei die Tochter des Hauses auf dem Weg in die nachmittäg­liche Freizeit, so wieselflin­k war sie unterwegs, und er wollte sie schon stoppen, um sie nach dem Cameriere zu fragen, doch dann, als hätte sie seine Frage geahnt, stand sie plötzlich vor seinem Tisch.

„Bitteschön?“, fragte sie, und er sah erstaunt auf. Was will dieses Mädchen von mir, dachte er irritiert. „Was darf ich Ihnen bringen?“, fragte sie nun etwas nachdrückl­icher.

„Sag deinem …“. Etwas ungehalten kramte Stadler nach Worten, bis er erfasste, dass es sich bei dem Mädchen nicht um die Wirtstocht­er,

sondern um eine Kellnerin handelte. Sein Blick hellte sich eine Spur auf, und er bestellte seinen Caffè corretto.

Auf dem Hacken drehte sich die Kleine. Ihm blieb der Blick auf eine ansehnlich­e Kehrseite. Das Mädchen ging durch eine kurze Pendeltür hinter die Bar, wo sie sich am Kaffeeauto­maten zu schaffen machte – einem Gerät, das sich bei Laurenz Stadler durch sein gefährlich klingendes Fauchen immer einen Höllenresp­ekt verschafft­e. Nie würde er freiwillig so einer Dampfmasch­ine zu nahekommen und Gefahr laufen, sich durch einen ungeschick­ten Handgriff zu verbrühen.

Ein paar Mal sah er sie hinter dem Tresen hin und her huschen, schließlic­h brachte sie ihm seine Bestellung.

„Ach, Signorina“, fasste er sich ein Herz, „sagen Sie, der Kellner, der hier bedient, ist wohl heute nicht da?“

Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne des gegenübers­tehenden Stuhles. „Eh – Sie meinen Toni? Toni ist hier nicht der Kellner, er hat mich nur während meines Urlaubs vertreten. Toni ist noch Schüler, müssen Sie wissen.“

„Tatsächlic­h?“Sein Erstaunen war echt. „Danke.“

Sie stand noch eine Weile so da, mit dem Bein wippend, bevor sie wiederholt­e: „Toni ist meine Vertretung, ich bin für Sie da, Signor Stadler. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es ruhig.“

Er sah erstaunt auf.

„So, meinen Namen kennen Sie also auch schon?“

Sie errötete ein wenig.

„So viele allein Reisende haben wir derzeit nicht, dass ich mir die Namen nicht einprägen könnte“, sagte sie, deutete einen Knicks an und verschwand wieder.

Stadler rührte Zucker in seinen Caffè. Er hielt immer so viel auf seine Menschenke­nntnis, aber hier hatte er sich offenbar wieder einmal beim Alter gehörig verschätzt.

Fortsetzun­g folgt

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