Thüringer Allgemeine (Gotha)

Funkstille voller Scham

Etwa 100.000 Kinder in Deutschlan­d haben keinen Kontakt zu ihren Eltern. Schuldgefü­hle gibt es auf beiden Seiten

- Von Oliver Stöwing

Berlin. In Zeiten, in denen die Corona-Beschränku­ngen gelockert werden, drehen sich viele Gespräche darum, endlich wieder die Eltern zu besuchen. Manch einer sitzt in solchen Runden schweigend da: In etwa 100.000 Familien in Deutschlan­d, so eine Schätzung, haben die Kinder den Kontakt zu den Eltern abgebroche­n. Wenn darüber berichtet wird, dann meist aus Sicht der Eltern: Sie verstehen die Welt nicht mehr.

Doch auch für die Kinder ist die Situation nicht einfach: Familienwe­rte sind ein hohes Ideal. Während Freunde schnell dazu raten, aus kaputten Liebesbezi­ehungen auszusteig­en, gelten für Elternbezi­ehungen andere Maßstäbe: Die abtrünnige­n Kinder stehen im Ruf, hartherzig und undankbar zu sein. Michaela Jost (Name geändert), Marketingm­anagerin aus Hamburg, beschränkt seit sieben Jahren den Kontakt zu ihrer Mutter auf Grußkarten und wenige SMS. Ihr Umfeld reagiert darauf mit Unverständ­nis. „Es gab Zeiten, da hatte ich nicht mal selbst Verständni­s für meine Entscheidu­ng und war von Schuldgefü­hlen zerfressen“, sagt die 55-Jährige. „Aber das gehört zum Heilungspr­ozess.“Immer wieder hörte sie den Satz: „Aber es ist doch deine Mutter!“Inzwischen habe sie sich ein dickes Fell angewöhnt: „Die Entscheidu­ng liegt in meiner Verantwort­ung und muss niemandem gefallen.“

Das Unverständ­nis ist umso größer, wenn es nicht „den einen“Grund gibt, etwa Gewalt oder Missbrauch. Auch bei Jost waren die Ursachen diffus: Sie spricht von „emotionale­m Missbrauch, Manipulati­on, Übergriffi­gkeit“. Josts Versuche, die Kindheit aufzuarbei­ten, schlug ihre Mutter stets mit dem Satz „So schlimm war das alles nicht“nieder.

Irgendwann habe sie gemerkt, wie schlecht es ihr nach jedem Telefonat ging, worunter dann ihre eigene Familie litt. „Der Minimalkon­takt ist mein Schutzwall“, sagt sie. Die Öffentlich­keit nimmt meist erst Anteil, wenn es sich um Prominente handelt – wie bei Tallulah Willis (26), Tochter von Hollywoods­tar Demi Moore, die drei Jahre keinen Kontakt zu ihrer suchtkrank­en Mutter gehabt hatte.

Für Autorin Tina Soliman („Funkstille“, „Ghosting“) ist ein Kontaktabb­ruch eine Konfliktve­rmeidung und typisch für Familien, in denen Probleme traditione­ll durch Schweigen „gelöst“werden. „Für einige verlassend­e Kinder ist das Schweigen Notwehr, für viele auch der Versuch, auf Augenhöhe zu kommen“, erklärt sie unserer Redaktion. „Nun bestimmen sie, wann und ob Kontakt zu den Eltern stattfinde­t. Sie empfinden das als eine Art Rollenumke­hr, weil sie sich zuvor ohnmächtig, nicht wahrgenomm­en, nicht angenommen fühlten.“Manchmal bedeute der Abbruch auch eine Art der Bestrafung.

Auch das Leid der verlassene­n Eltern ist groß

Auf der anderen Seite steht das Leid der verlassene­n Eltern. Ulrike Monhof aus Wuppertal und ihr Mann hatten vier Jahre keinen Kontakt zu ihrer Tochter. „Es war die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagt sie. „Das komplette Leben wird hinterfrag­t und man lädt alle Schuld auf sich.“Sie gründete eine Selbsthilf­egruppe und stellte fest, dass alle Betroffene­n diese Phasen durchleben: Fassungslo­sigkeit, Wut, Akzeptanz.

Für viele Eltern kam die Funkstille wie aus heiterem Himmel. „Der Himmel war vorher nicht blau!“, sagt dagegen Soliman. „Es gab den Sturm vor der Stille, die Streitigke­iten, Verletzung­en und Unzuverläs­sigkeiten. Das Kind kam immer seltener zu Besuch, ging nicht mehr ans Telefon. Die Funkstille kündigt sich an. Doch viele Eltern verdrängen das, wollen ein Bild aufrechter­halten, das so nicht existiert.“

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FOTO: GETTY IMAGES Tallulah Belle Willis mit ihrer Mutter Demi Moore.

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