Funkstille voller Scham
Etwa 100.000 Kinder in Deutschland haben keinen Kontakt zu ihren Eltern. Schuldgefühle gibt es auf beiden Seiten
Berlin. In Zeiten, in denen die Corona-Beschränkungen gelockert werden, drehen sich viele Gespräche darum, endlich wieder die Eltern zu besuchen. Manch einer sitzt in solchen Runden schweigend da: In etwa 100.000 Familien in Deutschland, so eine Schätzung, haben die Kinder den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Wenn darüber berichtet wird, dann meist aus Sicht der Eltern: Sie verstehen die Welt nicht mehr.
Doch auch für die Kinder ist die Situation nicht einfach: Familienwerte sind ein hohes Ideal. Während Freunde schnell dazu raten, aus kaputten Liebesbeziehungen auszusteigen, gelten für Elternbeziehungen andere Maßstäbe: Die abtrünnigen Kinder stehen im Ruf, hartherzig und undankbar zu sein. Michaela Jost (Name geändert), Marketingmanagerin aus Hamburg, beschränkt seit sieben Jahren den Kontakt zu ihrer Mutter auf Grußkarten und wenige SMS. Ihr Umfeld reagiert darauf mit Unverständnis. „Es gab Zeiten, da hatte ich nicht mal selbst Verständnis für meine Entscheidung und war von Schuldgefühlen zerfressen“, sagt die 55-Jährige. „Aber das gehört zum Heilungsprozess.“Immer wieder hörte sie den Satz: „Aber es ist doch deine Mutter!“Inzwischen habe sie sich ein dickes Fell angewöhnt: „Die Entscheidung liegt in meiner Verantwortung und muss niemandem gefallen.“
Das Unverständnis ist umso größer, wenn es nicht „den einen“Grund gibt, etwa Gewalt oder Missbrauch. Auch bei Jost waren die Ursachen diffus: Sie spricht von „emotionalem Missbrauch, Manipulation, Übergriffigkeit“. Josts Versuche, die Kindheit aufzuarbeiten, schlug ihre Mutter stets mit dem Satz „So schlimm war das alles nicht“nieder.
Irgendwann habe sie gemerkt, wie schlecht es ihr nach jedem Telefonat ging, worunter dann ihre eigene Familie litt. „Der Minimalkontakt ist mein Schutzwall“, sagt sie. Die Öffentlichkeit nimmt meist erst Anteil, wenn es sich um Prominente handelt – wie bei Tallulah Willis (26), Tochter von Hollywoodstar Demi Moore, die drei Jahre keinen Kontakt zu ihrer suchtkranken Mutter gehabt hatte.
Für Autorin Tina Soliman („Funkstille“, „Ghosting“) ist ein Kontaktabbruch eine Konfliktvermeidung und typisch für Familien, in denen Probleme traditionell durch Schweigen „gelöst“werden. „Für einige verlassende Kinder ist das Schweigen Notwehr, für viele auch der Versuch, auf Augenhöhe zu kommen“, erklärt sie unserer Redaktion. „Nun bestimmen sie, wann und ob Kontakt zu den Eltern stattfindet. Sie empfinden das als eine Art Rollenumkehr, weil sie sich zuvor ohnmächtig, nicht wahrgenommen, nicht angenommen fühlten.“Manchmal bedeute der Abbruch auch eine Art der Bestrafung.
Auch das Leid der verlassenen Eltern ist groß
Auf der anderen Seite steht das Leid der verlassenen Eltern. Ulrike Monhof aus Wuppertal und ihr Mann hatten vier Jahre keinen Kontakt zu ihrer Tochter. „Es war die schlimmste Zeit unseres Lebens“, sagt sie. „Das komplette Leben wird hinterfragt und man lädt alle Schuld auf sich.“Sie gründete eine Selbsthilfegruppe und stellte fest, dass alle Betroffenen diese Phasen durchleben: Fassungslosigkeit, Wut, Akzeptanz.
Für viele Eltern kam die Funkstille wie aus heiterem Himmel. „Der Himmel war vorher nicht blau!“, sagt dagegen Soliman. „Es gab den Sturm vor der Stille, die Streitigkeiten, Verletzungen und Unzuverlässigkeiten. Das Kind kam immer seltener zu Besuch, ging nicht mehr ans Telefon. Die Funkstille kündigt sich an. Doch viele Eltern verdrängen das, wollen ein Bild aufrechterhalten, das so nicht existiert.“