Paulus, Saulus, Ramelow
Wie sich der Ministerpräsident an der Aufhebung der Corona-Einschränkungen versuchte
Erfurt. Am Montagnachmittag hatte Bodo Ramelow einen friedvollen Termin. Die evangelischen und katholischen Bischöfe, die sich die Hoheit über die nicht sehr zahlreichen thüringischen Christen teilen, waren zum sogenannten Jahresgespräch in die Staatskanzlei gekommen. Danach wurde, wie bei derartigen Begegnungen üblich, allerlei ökumenische Milde gestreut.
Der Ministerpräsident konnte etwas Erholung vertragen. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn bereits etliche Fernsehteams im Halbstundentakt in der Staatskanzlei besucht. Sie alle wollten die fast schon bibeltaugliche Geschichte verfilmen, wie aus dem angeblichen Corona-Paulus Ramelow, der doch stets so wortreich vor den Gefahren des Virus warnte, der Corona-Saulus werden konnte, der nun plötzlich alle Einschränkungen aufheben will.
Ramelow fühlt sich, was öfter bei ihm vorkommt, absolut missverstanden. Doch tatsächlich hatte er Ende voriger Woche gegenüber dieser Zeitung so etwas wie eine gesundheitspolitische Wende angekündigt. „Ich werde dem Kabinett vorschlagen, dass wir jetzt die Weichen stellen, damit wir im Kern auf besondere Schutzvorschriften, die für alle Menschen in Thüringen gelten, verzichten können“, sagte er. Dies gelte, erklärte er gerne auf Nachfrage, auch für das Kontaktverbot, den Mund-Nasen-Schutz und den Mindestabstand.
Die Abfuhr erfolgte prompt, hart und bundesweit. Ramelow sende ein verheerendes Signal, hieß es mehrheitlich in den freundlicheren
Reaktionen. Trotzdem verteidigte der Ministerpräsident seinen Vorstoß. Die Zahl der infizierten Personen in ganz Thüringen liege bei etwa 250, sagte er dieser Zeitung. Nur gut 30 Patienten befänden sich in Behandlung, davon würden sehr wenige beatmet. Mehr als 400 der insgesamt gut 1000 Intensivbetten im Land seien nicht belegt. Es gehe ihm daher um die „Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen“.
Natürlich, das sagte Ramelow auch, bleibe das Virus aktiv und gefährlich. „Aber die mechanische Unterbrechung der Infektionswege war bei uns wirksam und erfolgreich.“Es liege deshalb bei allen Menschen, „weiterhin vorsichtig und achtsam zu sein“. Gebote seien aber besser als Verbote.
Und falls wieder, wie zuletzt in den Landkreisen Greiz oder Sonneberg, die Zahl der Infektionen ansteige? Dann, sagte Ramelow, werde das Land mit seiner neuen Task Force bereit stehen. Der Grenzwert soll hier mit 35 getesteten Neuinfektionen binnen einer Woche pro 100.000 Einwohner liegen: Dies ist strenger als der zwischen Bund und Ländern vereinbarte Wert.
Aber alle diese Erklärungen halfen wenig. Die Koalitionspartner von SPD und Grünen fühlen sich – wie so oft in den vergangenen Monaten – vom Ministerpräsidenten übergangen. Es sei ja richtig, den Menschen mehr Verantwortung zu übertragen, sagte Innenminister Georg Maier (SPD) dieser Zeitung. „Aber dazu braucht es eine klare Botschaft – und die fehlte.“Bei den Leuten sei hängengeblieben, dass man den Mundschutz in die Tonne schmeißen und private Feiern wie Jugendweihen wieder organisieren könne. „Das Ganze war, gelinde gesagt, ein kommunikativer Fehlgriff“, sagte Maier.
Auch CDU-Fraktionschef Mario Voigt, der stets mehr Freiheiten eingefordert hatte, bemühte sich nach anfänglicher Zustimmung um einen oppositionell-kritischen Auftritt. „Bodo Ramelow ist gerade dabei, bei diesem nicht einfachen Balance-Akt mit möglicherweise fataaussetzen. len Folgen abzurutschen“, sagte er. AfD-Landeschef Björn Höcke warf wiederum dem Ministerpräsiden- ten vor, die Positionen seiner Partei kopiert zu haben, nur um danach vor dem Widerstand einzuknicken.
Schließlich teilte noch der Leh- rerverbandschef Rolf Busch mit, „regelrecht erschüttert“über Rame- low zu sein. Dessen Ankündigung sei nur so zu verstehen gewesen, dass ab dem 6. Juni „auch die Wie- deraufnahme des Regelbetriebes in den Schulen stark beschleunigt wird“. Dies aber sei ein „ungeheuer- liches, von politischen Interessen getriebenes Glücksspiel“.
Auch aus den Kommunen kam vor allem Kritik: „Das ist brandge- fährlich“, sagte Michael Brychcy (CDU), der Präsident des Gemein- de- und Städtebundes.
Nach vielen Telefonaten und Ge- sprächen reagierte schließlich Ra- melow. Das Papier, das seine Staats- kanzlei regierungsintern verschick- te, las sich etwas anders als seine Aussagen vom Wochenende. So sol- len der Mindestabstand und die „Mund-Nasen-Bedeckung“vorge- schrieben bleiben. Zudem werden Schulen und Kindergärten in den bisher geplanten Schritten geöffnet.
Nur das Kontaktverbot, also die Beschränkung auf Treffen mit Ange- hörigen des eigenen und eines ande- ren Haushalts, soll in Thüringen aufgehoben werden, was aber dem aktuellen Stand der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern wider- spricht. Auch an dieser Stelle könn- te also der Ministerpräsident noch auflaufen.
Das Landeskabinett tagt am heu- tigen Dienstag, will aber erst in einer Woche entscheiden.
Werner Henning (CDU), Landrat des Eichsfeldkreises,
äußert sich zustimmend zur Ankündigung des Ministerpräsidenten, ab dem 6. Juni 2020 in Thüringen die Corona-Verbote in Corona-Gebote umzuwandeln und gegebenenfalls wieder notwendig werdende Verschärfungen in die Hände der örtlichen Gesundheitsämter legen zu wollen. „Ich glaube, dass sein Weg wohl ein kühner, dennoch aber ein richtiger ist“, so Henning. „Man kann keine mündige und freie Gesellschaft dauerhaft mit einer staatlichen Corona-Polizei und einem Bußgeldkatalog regieren“, betont er.
Knut Kreuch (SPD), Oberbürgermeister der Stadt Gotha:
„Ich bin dafür, dass wir langsam zur Normalität zurückkehren. Wichtig ist aber, dass die Verantwortung nicht auf Einzelne, das heißt auf Landräte und Bürgermeister, delegiert wird. Ein Flickenteppich der Normalität ist die Brutstätte einer neuen Corona-Pandemie“, sagt das Stadtoberhaupt.
Reinhard Krebs (CDU), Landrat des Wartburgkreises:
„Ich halte es für wichtig, dass man im Verlauf einer solchen Pandemie täglich über die Rahmensetzung mit Verordnungen diskutiert und sie jeweils der aktuellen Lange anpasst. Das kann Lockerungen bedeuten, aber eben auch wieder ein Zurück zu strengeren Vorgaben, wenn sich die Lage verschlechtert.“
Onno Eckert (SPD), Landrat des Kreises Gotha:
„Ich halte es für sinnvoll und notwendig, dass beispielsweise in Gaststätten Abstände eingehalten werden. Aber wird das auch in der Breite umgesetzt werden, wenn eben kein verbindliches Gebot dies fordert?“
Antje Hochwind-Schneider Landrätin Kyffhäuserkreis:
(SPD),
„Eine vollkommene Öffnung und die Abkehr vom Mund-Nasen-Schutz und dem Abstandsgebot schließe ich für den Kyffhäuserkreis aus. Eine weitestgehend einheitliche Regelung in Thüringen sollte es weiter geben.“
Weimars Oberbürgermeister Peter Kleine (parteilos):
„Die vom Ministerpräsidenten angekündigte umfassende Aufhebung der CoronaBeschränkungen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar. Wir alle müssen aufpassen, dass die hart erkämpfte Kontrolle der Pandemie-Ausbreitung nicht aufs Spiel gesetzt wird.“
Anke Hofmann-Domke (Linke), Bürgermeisterin in Erfurt:
„Es scheint vielen noch sehr früh zu sein, um alle Schutzmaßnahmen aufzuheben.“Nach den Äußerungen Ramelows, die sie „überrascht und verwundert“zur Kenntnis genommen habe, gehe sie nun davon aus, dass nach der Kabinettsberatung am Dienstag Vorgaben wie das Abstandsgebot oder der Mund-NaseSchutz auch über den 6. Juni hinaus auf Landesebene erhalten bleiben.