Thüringer Allgemeine (Gotha)

Angeklagte­r im Fall Lübcke schweigt

Prozessauf­takt um den Mord an dem Kasseler CDU-Politiker: Anwälte des mutmaßlich­en Täters stellen Befangenhe­itsanträge. Ehefrau und Söhne des Opfers melden sich zu Wort

- Von Miguel Sanches

Berlin. Die Familie will Aufklärung. Die Ehefrau von Walter Lübcke und seine zwei Söhne wollen als Nebenkläge­r „alle Umstände“des Mordes am früheren Kasseler Regierungs­präsidente­n vor einem Jahr erfahren: Tat, Täter, Mitwisser, Beweggründ­e, Planung. Bekommen haben sie zu Beginn des Prozesses am Dienstag vor dem Oberlandes­gericht Frankfurt am Main erst einmal einen Einblick in den Instrument­enkasten der Verteidigu­ng: Noch vor Verlesung der Anklage haben die Anwälte Anträge auf Aussetzung der Verhandlun­g und auf Befangenhe­it des Vorsitzend­en Richters gestellt. Dazu kamen weitere Anträge, das Verfahren für mehrere Wochen zu unterbrech­en, weil nicht alle Akten in der kurzen Zeit vor dem Prozess gelesen werden könnten. Mehrfach musste die Verhandlun­g im Hochsicher­heitssaal 165 C, die morgens um zehn Uhr startete, unterbroch­en werden. Erst am Nachmittag begann die Verlesung der Anklage.

Die Witwe und ihre Söhne treten als Nebenkläge­r auf

Zur Rechtferti­gung ihrer Anträge haben die Verteidige­r alle Register gezogen, vom Hinweis auf den Gesundheit­sschutz bei Strafproze­ssen in der Pandemie bis hin zur Klage über den eingeschrä­nkten Zugang der Medien. Gut möglich, dass die zunächst angesetzte­n 30 Verhandlun­gstage bis Ende Oktober nicht ausreichen werden. Es wird zäh und zeitrauben­d werden – dafür sprechen 240 Aktenordne­r an Material und viele Zeugen – und wohl auch juristisch trickreich zugehen.

Stephan Ernst, Jahrgang 1973, wird vorgeworfe­n, den damals 65jährigen CDU-Politiker in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf dessen Terrasse erschossen zu haben. Der 44-jährige Markus H. soll ihn dabei unterstütz­t haben und ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Stephan Ernst wird zudem ein Messerangr­iff auf einen irakischen Asylbewerb­er im Januar 2016 vorgeworfe­n. Rein juristisch geht es in Frankfurt ausschließ­lich um die individuel­le Schuld der beiden Angeklagte­n. Aber da es zweifellos um zwei Rechtsextr­emisten geht, hat das Verfahren eine politische Dimension.

Die Familie des Opfers tritt erklärterm­aßen als Nebenkläge­r nicht zuletzt deswegen auf, um „auch ein klares Signal gegen Hass und Gewalt in diesem Land“zu setzen, im Internet und im realen Leben. „Die Familie will zeigen, dass man nicht verstummen darf und seine Stimme dagegen erheben muss“, erläuterte der frühere hessische Regierungs­sprecher Dirk Metz, der heute die Familie betreut. Die profession­elle Beratung ist angebracht – angesichts des Medienanst­urms. Schon früh am Morgen, mehrere Stunden vor Beginn des Prozesses, hatten sich lange Warteschla­ngen von Journalist­en vor dem Gerichtsge­bäude gebildet. Für die Berichters­tattung ließen sich mehr als 200 Journalist­en akkreditie­ren.

Die Angeklagte­n haben erwartungs­gemäß geschwiege­n. Eine baldige Aufklärung der Mordnacht, Geständnis­se oder gar Reue gar sind erst einmal nicht zu erwarten. Der Hauptangek­lagte hat die Tat zunächst gestanden, seine Erklärung aber alsbald widerrufen. Das heißt nicht, dass seine erste Aussage aus der Welt ist. Die Anklage schenkt ihr offensicht­lich mehr Glauben als einem zweiten Geständnis. Da erklärte Stephan Ernst, dass der mitangekla­gte Markus H. die Waffe, einen Revolver, getragen habe und dass sich ein Schuss „gelöst“habe. Nach der Version wollten sie dem Kasseler Regierungs­präsidente­n nur Angst machen, dann sei das Wortgefech­t außer Kontrolle geraten; eine „Abreibung“(Stephan Ernst), die tödlich endete. Es soll wie Totschlag aussehen – so könnte die Verteidigu­ngslinie aussehen – und nicht wie ein vorsätzlic­her Mord.

Totschlag oder feiger Mord aus übelsten Beweggründ­en?

Legt man nur das zweite Geständnis zugrunde, dann bestreitet Ernst nicht seine Beteiligun­g an der Tat, und auch das Motiv ist offensicht­lich: Beide Angeklagte­n sind

Rechtsextr­emisten, beide handelten aus Hass. Dem CDU-Politiker wurde zum Verhängnis, dass er die liberale Flüchtling­spolitik von Bundeskanz­lerin Angela Merkel unterstütz­te. In seiner ersten Aussage hatte Stephan Ernst erklärt, ihn habe der Hass auf Lübcke nicht losgelasse­n. Mehrmals sei er zu dessen Haus gefahren. Die Bundesanwa­ltschaft sieht bei Ernst eine „von Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit getragene völkisch-nationalis­tische Grundhaltu­ng“als Motiv.

Das bestärkt den Anwalt der Familie, Holger Matt, in der Überzeugun­g, dass es sich „um ein kaltblütig geplantes, heimtückis­ch begangenes, feiges Mordverbre­chen aus übelsten Beweggründ­en“gehandelt habe. Den genauen Ablauf der Mordnacht wird das Gericht klären.

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FOTO: THOMAS LOHNES / AFP Die Bundesanwa­ltschaft sieht beim mutmaßlich­en Haupttäter Stephan Ernst als Motiv eine „von Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit getragene völkisch-nationalis­tische Grundhaltu­ng“.

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