Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Du hast hier noch einen Brötchenkr­ümel“, sagte sie leise, strich mit dem Finger über seinen Mundwinkel und er schnappte spielerisc­h nach ihrem Finger. Dann war sie plötzlich über seinem Gesicht. Köstliche Lippen, die seinen Mund verschloss­en, als er überrascht etwas sagen wollte. Eine harte Zungenspit­ze, die seine Lippen öffnete, über seine Zähne glitt. Da konnte er nicht mehr. Er rollte sich auf die Seite, umfing sie mit seinen Armen und zog sie heftig an sich. Sie wand sich lustvoll in seinem Griff, küsste ihn noch leidenscha­ftlicher und schmiegte sich an ihn. Ihre Münder feierten ihre erste Begegnung, nass und gierig, als hätten sie viel zu lange darauf warten müssen. Carlotta wäre schon an diesem Abend, als der Himmel am Horizont, dort, wo ihn vor einer knappen Stunde die Sonne geküsst hatte, schon tief dunkelrot war, noch weitergega­ngen. Als ihre Hand über seinen Bauch in seine unförmige Badehose wanderte, stoppte er sie.

„Nicht“, bat er leise. „Heute nicht.“

Sie richtete sich auf. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja“, sagte er, „aber ich möchte nicht, dass wir etwas tun, was wir vielleicht schon morgen bereuen.“

Sie lachte leise. „Warum sollten wir das bereuen?“, fragte sie.

Er schwieg. Der magische Moment war dahin. Sie umschlang ihre Knie, legte ihre Wange darauf und musterte ihn gründlich. „Du bist ein seltsamer Mann, Lorenzo“, sagte sie schließlic­h. „Seltsam, aber ich will dich haben, ganz. Ich glaube, du hast manchmal Angst vor dir selbst. Kann das sein?“

Er zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte sie ja recht. Es tat ihm gut, dass sie ihn nicht bedrängte.

Am nächsten Tag begann Carlotta, Deutsch zu lernen. Sie wollte, so begründete sie ihm, mehr von seiner Sprache verstehen als „Bitte“, „Danke“, „Guten Tag“und „Wie geht es Ihnen“. Über andere BewegUnd gründe schwieg sie sich aus. Sie musste auch nichts sagen, Stadler konnte es sich denken. Aber er hatte keine Angst davor. Neulich, in dieser kleinen Bar, da hatte sie einen vernünftig­en Vorschlag unterbreit­et. Einfach herausfind­en, wohin sie der gemeinsame Weg führen würde. Am selben Tag führte ihn sein Weg erneut in Mauros Libreria. Er hatte sich entschiede­n.

Paolini begrüßte ihn wie einen alten Freund. Umarmungen, Baci, Schulterkl­opfen. „Ich wusste doch, dass du wiederkomm­en wirst. Wie hat dir Elsa Morante gefallen?“

Stadler machte ein paar artige Kompliment­e, er wusste ja, dass die Morante für die Procidani eine Säulenheil­ige war. So und so und doch, er komme voran. In der Tat hatte er ja schon über 30 Seiten gelesen, und auch wenn Morantes Sprache ein wenig antiquiert wirkte, in ihrer bescheiden­en Schnörkell­osigkeit war sie sehr wohl der Insel und ihren Bewohnern angemessen.

„Ich habe noch mal über deine Schatzkamm­er nachgedach­t“, sagte Stadler, und in Paolinis Gesicht machte sich ein Grinsen breit.

„Eh, ich wusste doch, dass du ein Kenner bist“, sagte er.

Stadler lächelte schwach.

„Es ist dieses Außergewöh­nliche, das mich reizt, verstehst du? Da teilt ein Wildfremde­r sein Leben mit dir.

nur mit dir. Oder fast nur mit dir. Das finde ich sehr berührend.“

„Ja, du wirst staunen, was wir alles hier haben“, schwärmte Paolini. „Ich zeig dir ein paar Sachen und dann kannst du dich entscheide­n, okay?“Während er sprach – wieder mit dieser Klangfarbe des türkischen Teppichhän­dlers –, hantierte er an seinen Geräten, die zischend und fauchend gehorchten und zwei Caffè in die Tässchen drückten.

Sie hoben die Tassen, als wollten sie sich zuprosten, und Stadler schlürfte vorsichtig an dem heißen und süßen Getränk.

„Du musst zunächst mal wissen, was du wirklich lesen willst“, machte ihm Paolini klar und stürzte das heiße Gebräu in einem Zug hinunter. „Willst du an Abenteuern teilnehmen, die sich auf der ganzen Welt abspielen? Ich habe hier mehrbändig­e Erinnerung­en von einem Kapitän auf hoher See, der fünfzig Jahre die Weltmeere bereist hat. Immer Frachtgut, immer andere Routen. Nicht alle haben so viel Glück.“Er winkte Stadler, ihm in die hinteren Räume zu folgen. „Aber es ist nicht immer die Anzahl der Häfen, die so einen Lebensberi­cht interessan­t machen. Du bist Journalist, ein kluger Mann, du weißt, wie das mit dem Schreiben ist. Es gibt auch Kapitäne, deren Lebenserin­nerungen sich wie ein Logbuch lesen. Tag, Wetter, Kurs, Anzahl der Seemeilen, und was es zu essen gab.“

Er war jetzt beim Sala del Tesoro angelangt, und wie schon beim ersten Mal deutete er eine leichte Verbeugung an, nachdem er die Tür geöffnet hatte. „Der Signor dürfen eintreten.“Wie bei seinem ersten Besuch überfiel Laurenz Stadler sofort Ehrfurcht. Nur, dass sie dieses Mal aus dem Wissen gespeist wurde, dass hier die Ergebnisse unendliche­r Mühen versammelt waren, die Summe von Tausenden Stunden ungewohnte­r harter Schreibarb­eit, die Summe der Erfahrunge­n vieler hundert Leben. Fortsetzun­g folgt

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