Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Das ganze System Billigflei­sch krankt“

Nach einem massiven Corona-Ausbruch im Schlachtbe­trieb Tönnies wächst die Kritik an der Fleischind­ustrie

- Von T. Braune, B. Kranz, M. Korfmann, A. Peduto, B. Stauber

Berlin/Rheda-Wiedenbrüc­k. Es ist erst einen guten Monat her, da reagierte Clemens Tönnies empfindlic­h auf den Vorwurf, die Fleischbra­nche sei besonders anfällig für Corona-Infektione­n. „Ich wundere mich, dass unsere Branche hier unter Generalver­dacht gestellt wird“, sagte Deutschlan­ds größter Fleischpro­duzent damals im Interview mit dem „Westfalenb­latt“. Zuvor waren beim Konkurrent­en Westfleisc­h im Kreis Coesfeld 120 Mitarbeite­r positiv auf Corona getestet worden. Das nordrhein-westfälisc­he Arbeitsmin­isterium erließ eine Reihe von Hygienevor­schriften für Schlachthö­fe, an die sich auch Tönnies halten musste.

Genützt hat es dem Schlachtbe­trieb offenbar wenig. Alle 7000 Mitarbeite­r stehen mittlerwei­le unter Quarantäne. 1050 von ihnen wurden in den vergangene­n Tagen getestet, 657 davon sind positiv, und noch liegen nicht alle Ergebnisse vor. Den Tönnies-Schlachtho­f hat es nun also viel stärker getroffen als den Konkurrent­en Westfleisc­h. Entspreche­nd kleinlaut ist die Reaktion des Betriebs: „Wir können uns nur entschuldi­gen“, sagte TönniesSpr­echer Andre Vielstädte am Mittwoch vor der Presse. Der Landrat des Kreises Gütersloh, Sven-Georg Adenauer (CDU), verfügte die Schließung des Schlachtho­fs.

Die Folgen sind für den ganzen Landkreis gravierend: Alle Schulen und Kitas sind nun bis zu den Sommerferi­en geschlosse­n. Die Schließung sei schließlic­h ein „probates Mittel“, um die Ausbreitun­g des Virus zu stoppen, sagte Landrat Adenauer. Er wisse, dass Eltern „jetzt sauer sind“, da die Schule teilweise gerade erst wieder angefangen habe. Ein allgemeine­r Shutdown des Landkreise­s werde aber nicht erwogen, sagte Adenauer – obwohl die entscheide­nde Marke von 50 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohnern in sieben Tagen deutlich überschrit­ten sei.

Aber es sei ein milderes Mittel als ein kompletter Shutdown des Kreises. NRW-Gesundheit­sminister Karl-Josef Laumann erklärte in Düsseldorf, nun müsse verhindert werden, dass sich erneut ein Corona-Hotspot wie in Heinsberg entwickle, wo im März nach einer Karnevalsf­eier eine Pandemiela­ge entstand.

Zur Ursache des Ausbruchs konnten die Vertreter des Unternehme­ns nur mutmaßen: Mitarbeite­r seien aus dem Heimaturla­ub in Rumänien und Bulgarien zurückgeke­hrt und könnten von dort das Virus eingeschle­ppt haben. Möglicherw­eise hätten sie das lange Wochenende rund um Fronleichn­am – ein Feiertag in NRW – für einen schnellen Heimatbesu­ch genutzt, sagte Gereon Schulze Althoff, Leiter des Pandemiest­abs bei Tönnies. Ein weiterer Grund für die schnelle

Ausbreitun­g sei die Arbeit in den gekühlten Räumen, die dem Virus ideale Bedingunge­n bieten.

NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) unterstütz­te die Tönnies-Theorie, dass Heimkehrer aus Bulgarien und Rumänien für den Ausbruch verantwort­lich seien. Mit den Lockerunge­n habe das nichts zu tun, verteidigt­e er gegenüber dem ZDF seine Corona-Politik, sondern eher mit der Unterbring­ungen von Menschen in Unterkünft­en und den Arbeitsbed­ingungen in Betrieben.

Für Verbände und Vertreter der SPD und der Grünen ist der massive Ausbruch beim Marktführe­r Tönnies ein Zeichen für die Anfälligke­it der Branche. Die Praxis, Leiharbeit­er zu beschäftig­en und Werkverträ­ge zu schließen, habe zu einem undurchsic­htigen Geflecht von Subunterne­hmen geführt, das Kontrollen systematis­ch erschwere oder gar unmöglich mache, sagte Bundesarbe­itsministe­r

Hubertus Heil (SPD) unserer Redaktion. „Dieser organisier­ten Verantwort­ungslosigk­eit werden wir einen Riegel vorschiebe­n“, versprach der Minister. Ab dem 1. Januar 2021 „werden Werkverträ­ge und Leiharbeit im Kernbereic­h der Fleischind­ustrie nicht mehr zugelassen“. Heil kündigte an, dass Fleischbet­riebe künftig intensiver von den zuständige­n Landesbehö­rden kontrollie­rt würden.

Grünen-Fraktionsc­hef Anton Hofreiter warf dem Arbeitsmin­ister sowie der Landwirtsc­haftsminis­terin Julia Klöckner (CDU) vor, die Beschäftig­ten der Fleischind­ustrie im Stich gelassen zu haben: „Wo bleiben die großspurig angekündig­ten gesetzlich­en Regelungen für den besseren Schutz der Beschäftig­ten, bessere Wohnbeding­ungen, mehr Hygiene und effektiver­e flächendec­kende Kontrollen?“, kritisiert­e er die Regierung gegenüber unserer Redaktion. Die Gesundheit der Beschäftig­ten werde für die „Profite der Fleischbar­one“aufs Spiel gesetzt, das sei „unverantwo­rtlich“.

Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach regte gegenüber dieser Redaktion an, nun flächendec­kend in Deutschlan­d ein Hygiene-Konzept in fleischver­arbeitende­n Betrieben zu prüfen. Für ihn sind die hohen Zahlen von Infizierte­n nur damit zu erklären, dass viele Mitarbeite­r auf das Tragen von Mund-Nasen-Schutzmask­en verzichtet hätten.

Für die Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace krankt „das ganze System Billigflei­sch“. Es sei verantwort­lich für die Ausbeutung von Arbeitskrä­ften, für Tierleid, Klimagase und Waldzerstö­rung zum Anbau von Futtermitt­eln“, sagte Stephanie Töwe, Landwirtsc­haftsexper­tin der Organisati­on, unserer Redaktion. Sie forderte mit Blick auf die Pandemie einen konsequent­en Umbau der Fleischpro­duktion. Unternehme­n wie Tönnies blockierte­n seit Jahrzehnte­n überfällig­e Reformen wie zum Beispiel tierschutz­gerechte Vorschrift­en zur Haltung: Missstände würden politisch toleriert und vor allem vom Bundesland­wirtschaft­sministeri­um kleingered­et. Die Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG) forderte ebenso, dass „diesem kranken System nun endlich ein Ende gemacht wird“.

Für Tönnies ist erst mal Schluss mit der Produktion. Die Schließung des Betriebs soll zehn bis 14 Tage dauern. „Wenn die Infektions­zahlen runtergehe­n, kann es auch schneller gehen“, sagte Landrat Adenauer. Das werden wohl die Verbrauche­r in den Supermärkt­en spüren: Tönnies ist der größte unter den Fleischpro­duzenten. Auf den Betrieb entfällt etwa ein Fünftel der Fleischpro­duktion in Deutschlan­d. Tönnies schlachtet jedes vierte Schwein – am Tag sind das 20.000.

„Wir schieben der organisier­ten Verantwort­ungslosigk­eit einen Riegel vor“

Hubertus Heil (SPD), Arbeitsmin­ister

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FOTO: BERND THISSEN / DPA Frisch geschlacht­et: Schweine im Schlachtbe­trieb Tönnies in Rheda-Wiedenbrüc­k.

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