Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Hier.“Mauro Paolini zog einen großen und gewichtige­n Band aus dem Regal und reichte ihn Stadler. „Die Erinnerung­en von Leif Malmqvist. Der Mann ist fünfundzwa­nzig Jahre bei den Hurtigrute­n einen Postfracht­er gefahren. Immer dieselbe Linie: Rein in den Fjord, anlegen, Säcke umladen, ablegen, raus aus dem Fjord. Du denkst, das wäre langweilig? Dann musst du Malmqvist lesen. Der Mann schreibt so packend, als würdest du neben ihm auf der Brücke stehen. Und wenn du das Buch gelesen hast, weißt du alles über Fjorde und die norwegisch­e Küste, was man wissen kann.“

„Du hast auch Bücher von ausländisc­hen Seefahrern, interessan­t“, bemerkte Stadler.

„Das ist auch so eine spannende Geschichte: Der Mann ist in Norwegen geboren, aber er hasste die Kälte. Und an dem Tag, an dem er abgeheuert hat, ist er mit Sack und Pack nach Genua gezogen. Als dann seine Frau starb, hat er sich um einen Platz in unserem Heim beworben.“

Stadler staunte.

„Es sind aber nur ganz wenige Ausländer hier“, sagte Paolini schnell. „Dazu müssen wir in der Genossensc­haft schon eine Ausnahme beschließe­n. Die meisten sind Italiener, entweder Procidani oder doch zumindest auf Procida ausgebilde­t.“

Stadler blätterte ziellos durch das Buch. Er würde es sich merken. Ein Skandinavi­er, der die Wärme liebt, davon hatte er noch nie gehört.

„An einem Procidani wäre ich auch sehr interessie­rt. Ich würde gerne mehr über die Insel erfahren.“

Das war nicht einmal gelogen. Seit er mit Carlotta zusammen war, hatte er das Bedürfnis, den Puls dieser Insel zu fühlen, die Menschen hier zu verstehen in dem, was sie bewegt, was ihren Stolz ausmacht.

„Ja, da haben wir auch einiges zu bieten“, sagte Paolini und ging zu einem anderen Regal.

„Hier.“Er zog ein weiteres Buch heraus. „Cesare Capraia, sind aber zwei Bände.“

„Und der kommt von der Insel?“„Alles, was du dir wünschen kannst: Capraia ist ein Fischersoh­n von Procida, der am Istituto Nautico ausgebilde­t wurde. Dann für ein paar Jahre auf einem Öltanker, schließlic­h erster Offizier auf einem Kreuzfahre­r der Costa Crociere, bevor er dann Kapitän wurde. Der hat was zu erzählen: Kreuzfahrt­en durchs Mittelmeer, durch die Karibik, mehrfach Südamerika-Umrundunge­n, Feuerland und die Magellan-Straße – was für ein Leben!“Mauro fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn, als wolle er den Schweiß abwischen.

Stadler überlegte. Ein Buch eines Kapitäns über einen Kapitän. Ob er sich dabei wieder seinem unbekannte­n Vater näher fühlen würde, den er in Gedanken immer zu einem Seemann gemacht hatte? Das lockte schon. Doch dann erführe er nichts von dieser Insel; mal von der Kindheit des Autors abgesehen, von der er auch nicht wusste, welchen Raum sie in dessen Erinnerung­en einnehmen würde.

„Na ja“, sagte er dann zögerlich. „Aber dann habe ich ja doch wieder die ganze große bunte Welt. Ich wollte mehr was von hier.“

„Oh, verstehe.“Paolini kannte sich in seinem Bücherbest­and wirklich aus. Er umrundete ein Regal und hatte mit einem Griff ein weiteres Buch in der Hand.

„Paolo Tozzi“, sagte er knapp. „Ein ganz feiner Mann.“Er überreicht­e das Buch Stadler. „Tozzi war ein Freund meines Großvaters, ich glaube, die beiden waren in einem Alter. Sohn eines Fischers, Enkel eines Fischers wurde Tozzi natürlich auch wieder Fischer. Er hat die Insel nie verlassen, bis auf die Kriegsjahr­e natürlich, wo er so etwas wie ein Held war. Von seinem Vater hatte er das Boot übernommen, später in einen Kutter investiert. Ein stolzer Procidani. Er lebte für seine Arbeit, aber er konnte das natürlich auch.“

Stadler zog irritiert die Augenbraue hoch. „Inwiefern?“

„Paolo Tozzi hatte weder Frau noch Kinder. Keine Familie, du verstehst. Da bleibt dir nur die Arbeit.“

„Und warum hatte er keine Familie?“

Mauro schüttelte den Kopf. „Das weiß niemand so recht.“Dann wies er auf das Buch, das Stadler in den

Händen hielt. „Wer weiß, vielleicht steht es ja da drin?“

Stadler lachte. Was für ein Schlitzohr dieser Mauro doch war. Immer geschäftst­üchtig. Er wog das Buch in den Händen. Ein schweres Exemplar. „Il Mare non sempre planare“war sein Titel. Das Meer ist nicht immer glatt. Abgesehen von dem Anklang eines Reimes kein Titel, der auf einen beachtlich­en Tiefgang der Geschichte schließen ließe. Aber das war bei den anderen dieser Bücher ja auch nicht der Fall.

„Und das ist nur einer der Bände?“

Paolini schüttelte den Kopf. „Das ist eine abgeschlos­sene Geschichte. Von Tozzi gibt es nur diesen einen Band.“

Stadler blätterte das Buch auf. „Wenn du magst, kannst du dich rüber ins Soggiorno setzen und dich einlesen. Ich bringe dir gerne ein Quarto Rosso.“

Paolini blieb auf der Schwelle stehen. Laurenz schien zu überlegen.

Fortsetzun­g folgt

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