„Ganz klar gegen eine Impfpflicht“
Ministerpräsident Ramelow über die Pandemie, die Folgen für die ostdeutsche Wirtschaft – und den Neuwahltermin
Erfurt. Fast vier Monate ist es her, dass in Thüringen Bodo Ramelow (Linke) erneut zum Ministerpräsidenten gewählt wurde – und er unmittelbar darauf den Corona-Lockdown für das Land administrieren musste. Kurz vor der Sommerpause zieht er Zwischenbilanz.
Herr Ramelow, es gab zuletzt die Überlegung in der CDU, die für April geplante Neuwahl des Landtags im nächsten Jahr zu verschieben, zum Beispiel auf den Termin der Bundestagswahl im Herbst. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe die Äußerungen des Kandidaten für den CDU-Landesvorsitz, Christian Hirte, zur Kenntnis genommen, genauso wie das Dementi von CDU-Landtagsfraktionschef Mario Voigt. Für mich gilt die zwischen der Union und Rot-RotGrün getroffene Verabredung. Sie besagt erstens: Wir wollen bis zur Verabschiedung des Landeshaushalts für das Jahr 2021 nicht gegeneinander Mehrheiten im Landtag organisieren …
… also Rot-Rot-Grün etwa mit der FDP – oder die CDU mit AfD und FDP.
Genau. Und zweitens: Wir wollen im Winter gemeinsam mit der Union als Zweidrittel-Mehrheit den Beschluss zur Auflösung des Landtags fassen, um dann am 25. April 2021 die Neuwahl durchzuführen. Ich jedenfalls habe vor, mich vertragstreu zu verhalten. Über mehr muss ich jetzt nicht spekulieren. Niemand weiß, wie sich die Corona-Pandemie entwickelt.
In Thüringen ist das Infektionsgeschehen nahezu bei null angelangt. Werden zum Auslaufen der aktuellen Corona-Verordnung am 15. Juli die letzten Einschränkungen aufgehoben?
Nein. Wir werden als Landesregierung die geltenden Einschränkungen – mit kleineren Anpassungen – bis zum Ende der Sommerferien am 30. August verlängern.
Abstandsgebot und Maskenpflicht in Geschäften und öffentlichen Verkehrsmitteln gelten also weiter?
Zum Beispiel, wobei ja der MundNasen-Schutz von den Verkäufern und Angestellten im Einzelhandel nicht mehr getragen werden muss. Falls die Situation im Land ruhig bleibt, werden wir dann Ende August in den Regelbetrieb an den Schulen übergehen und synchron dazu die allgemeinen Einschränkungen weiter lockern. Ich wiederhole aber gerne das, was ich immer an dieser Stelle sage: Wir dürfen jetzt nicht leichtsinnig werden. Die neuen Ausbrüche in NordrheinWestfalen und überall auf der Welt zeigen uns, dass Corona längst nicht vorbei ist. Die zweite Welle ist kein
Angstszenario, sie ist bereits Realität, zum Beispiel in den USA. Solange wir nicht über einen Impfstoff verfügen, gibt es die Pandemie.
Wenn es einen Impfstoff gibt: Sollte sich jeder impfen lassen?
Ich würde mir wünschen, dass sich dann so viele wie möglich impfen lassen. Ich werde es tun. Aber ich bin bei Corona ganz klar gegen eine Impfpflicht. Es wird sich ja um einen Impfstoff handeln, der in kürzester Zeit entwickelt wurde. Er kann daher erst recht nicht gegen den Willen von Menschen verabreicht werden. Da bin ich sehr entschieden.
Befürchten Sie, dass das Virus in den Ferien wieder nach Thüringen getragen wird?
Ich kann es, wie so vieles derzeit, natürlich nicht ausschließen. Wir bauen gerade ein Frühwarnsystem auf, ich bekomme bereits jetzt jeden einzelnen Infektionsfall aus Schulen und Kindergärten auf mein Handy geschickt. Unsere Strategie ist klar: Im Fall eines lokalen Ausbruchs werden wir ebenso lokal schnell und konsequent reagieren. Das haben wir in Sonneberg und Greiz schon mal praktiziert, wo übrigens das Virus vor allem in Pflegeheimen, Dialysepraxen und Krankenhäusern grassierte. Es deutet einiges darauf hin, dass dort einige Träger und Betreiber die nötigen Hygienemaßnahmen nicht ausreichend umgesetzt haben. Auch wenn das die Betroffenen nicht hören wollen: In diesen Einrichtungen muss deutlich und sofort nachgesteuert werden.
Was ist mit Touristen aus Nordrhein-Westfalen?
Wir sollten uns immer an Recht und Gesetz halten. Das heißt: Touristen aus Nordrhein-Westfalen sind herzlich in Thüringen willkommen, sofern sie nicht daheim unter Quarantäne gesetzt wurden. Wir werden niemanden des Landes verweisen, nur weil sein Auto ein Kennzeichen der Landkreise Gütersloh oder Warendorf trägt.
Die Gefahr der Infektion muss bei all diesen Betrachtungen im Vordergrund stehen und nicht einfach nur die Herkunft. Diese Pandemie ist für Thüringen ja auch eine große Chance, sich als Touristikstandort zu zeigen, weil viele Menschen ja auf Auslandsreisen verzichten und ihren Urlaub in Deutschland verbringen.
Die Krise als Chance: Für die Mehrheit der Unternehmen gilt das aber nicht. Die Autozulieferbetriebe gehen gerade in Thüringen fast kollektiv in Insolvenz. Was tun?
Die Entwicklung ist besorgniserregend. Ich schlage einen Konversionsfonds für Betriebe der Automobilbranche vor, der finanziell den Strukturwandel begleitet, der jetzt durch Corona beschleunigt wird.
Das heißt: Wir helfen nicht nur den Betrieben, neue Produkte zu entwickeln, etwa auf Basis von Wasserstoff oder Solarstrom, sondern fördern auch Vermarktung und Vertrieb. Ich rede hier nicht von Zuschüssen, sondern von sogenannten nachrangigen Darlehen, die als Eigenkapital die Bilanz der Unternehmen stärken.
Sie wollen damit das Eigenkapitalproblem abmildern, dass vor allem in den neuen Ländern existiert. Wird der Osten gerade wieder abgehängt?
Die Gefahr besteht. Die Fehler, die vor 30 Jahren gemacht wurden, wirken bis heute nach. Wir haben zwar inzwischen viele großartige Unternehmen mit Sitz in Thüringen. Aber in vielen Fällen sind wir immer noch die verlängerte Werkbank von Konzernen, die ihre Steuern im Westen zahlen. Wir sitzen quasi am Ende der Nahrungskette. Diese besondere Situation von Ostdeutschland wird zu selten bei den Entscheidungen in Berlin mitgedacht.
Zum Beispiel?
So richtig ich es etwa finde, dass der Bund großzügig Kurzarbeitergeld zahlt, so falsch ist es zugleich, dass damit Geringverdiener – von denen es im Durchschnitt deutlich mehr in Ostdeutschland gibt – zum Gang aufs Sozialamt gezwungen werden, um eine Aufstockung ihres Gehalts zu beantragen. Hier brauchen wir eine Regelung, die das Kurzarbeitergeld automatisch oberhalb des Existenzminimums eines Haushalts hält.
Oder ein anderes Beispiel: So richtig es ist, dass Kommunen ihre Steuerausfälle vom Bund ersetzt bekommen, so falsch ist es, dass dadurch die im Durchschnitt deutlich ärmeren ostdeutschen Kommunen deutlich weniger Geld erhalten. Damit wird dafür gesorgt, dass sich die Schere von Ost und West wieder weiter öffnet. Das kann niemand im 30. Jahr der deutschen Einheit wollen.