30 Soli und ein doppelter Pas de deux
Andris Plucis choreografiert in Eisenach das Corona-Ballett „Wir“. Zwei Paarbeziehungen sind dabei sehr hilfreich
Eisenach. Seht zwei Haushalte hier von gleichem Stand! – An Shakespeares „Romeo und Julia“-Prolog (Two households, both alike in dignity . . .) lässt sich unwillkürlich denken, wenn dieser Tage zwei Tanzpaare im Ballettsaal des Landestheaters Eisenach eine Choreografie probieren: Karin Honda aus Japan und Filip Clefos aus Moldawien sowie Juliette Odiet aus der Schweiz und Jesse Cornelis aus Belgien tanzen einen doppelten Pas de deux zur Chaconne aus Bachs zweiter Partita für Solovioline.
Diese Chaconne, ein Tanz schon dem Namen nach, nimmt eine Ausnahmestellung ein. Erstens ist sie mit mehr als einer Viertelstunde Spieldauer ungewöhnlich lang. Und zweitens hat sie einst dazu beigetragen, das klassische Ballett des späten 20. Jahrhunderts zu prägen und zu verändern. Sie kam seit 1984 in „Artifact“vor, einer „Ode an das Ballett“, die William Forsythe seiner gerade erst gegründeten Frankfurter Company widmete.
„Das war so bahnbrechend, dass ich mich als Choreograf niemals herangetraut hätte“, sagt Andris Plucis, der selbst bei Forsythe tanzte, bevor er 1985 in Gießen Deutschlands damals jüngster Ballettdirektor wurde. Jetzt traut er sich’s doch. Und das liegt an der Ausnahmestellung, die die Corona-Krise auch fürs Landestheater bedeutet und die dabei jene beiden Tanzpaare einnehmen können.
Andris Plucis wagt den Vergleich mit Vorbild William Forsythe
Sie haben sich im Eisenacher Ballett nicht nur kennen-, sondern auch lieben gelernt. Sie arbeiten und sie leben jeweils auch zusammen. Zwei Haushalte also auch von gleich geringem Abstand, was ihnen und Plucis jetzt entgegenkommt.
Sie können und dürfen sich problemlos mit heißem Atem begegnen, vor- und miteinander schwitzen, sich gegenseitig ins Gesicht fassen und sowieso überall berühren.
„Rein zufällig“, sagt Ballettchef Plucis aus künstlerischer Sicht, „sind das auch noch zwei sehr gute Paare.“Mit der besonderen Situation gingen sie wahnsinnig professionell um. „Die sind einfach toll!“
In Forythes Chaconne gab’s auch einen doppelten Pas de deux. Die Paare tanzten, im Kontrast zur Company, gleichzeitig. In Eisenach wechseln sie einander ab und schaffen Übergänge. Die einen enden rechts vorne, die anderen beginnen danach links hinten. Denn Hygieneund Abstandsregeln zwischen den beiden Paaren gelten natürlich.
Bachs Chaconne ist für Plucis „eine dieser Herzensmusiken.“Forsythe interessierte daran, wie er selbst sagte, „der schwindelerregende Reiz der Genauigkeit.“Er übersetzte Bachs musikalische Mathematik in tänzerische Geometrie. Als Plucis jetzt die Videos wieder sah, dachte er: „Das kann man vielleicht alles auch noch purer nehmen.“
An diesem Mittag probieren sie das erstmals mit der neuen Aufnahme: Alexej Barchevitch, Konzertmeister der Thüringen Philharmonie
Gotha-Eisenach, spielt auf einer Barockgeige. Später, im Theater, wird er damit auf der Bühne stehen. Auf diesem Instrument klingt das Stück kompromissloser, radikaler, ungeschmückter, so Plucis. „Der Klang wird dadurch so existenziell!“Und darum ist’s ihm zu tun.
Die Chaconne wird bei Plucis zur Mitte eines Abends namens „Wir“. Das wird ein Corona-Ballett, ohne das Thema allzu vordergründig vertanzen zu wollen. „Es wäre vielleicht selbst dann interessant, gäbe es Corona gerade nicht.“
Und doch, das ist die Grundhaltung, habe die Krise eine historische Dimension. „Sie macht was mit uns als Gesellschaft.“In Momenten der Besinnung könne uns zu Bewusstsein kommen, dass wir letztlich alle voneinander abhängen. „Und uns ist jedes Menschenleben gleich viel wert. Dafür ruinieren wir im Zweifelsfall sogar unsere Wirtschaft.“
Für dieses Wechselspiel zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft greift Plucis auf Bachs Goldberg-Variationen zurück, in der zweiten Aufnahme Glenn Goulds. Die insgesamt 30 Variationen auf eine Aria eignen sich, pragmatisch gesehen, ohnehin bestens für ebenso viele Soli der Tänzer. Plucis selbst choreografiert 25 davon, für die anderen haben sich Tänzer seines Ensembles in eine Liste eingetragen. „Wir“wird also schon insofern: ein Gemeinschaftswerk.
In der Bühne spannt man dafür ein asymmetrisches Segel mit zwei Sandsäcken, auf das Kindheitsbilder der Tänzer projiziert werden. Es besteht aus gespendetem Tuch, mit dem die Theaterwerkstätten zuletzt Mund-Nasen-Schutze nähten. Einen solchen trägt auch eine Engelsgestalt im Lamento der Variation 25, die die am Boden liegenden Tänzer zudecken wird. Die Bettkönnten auch Leichentücher sein. Und selbst bei der Chaconne sind sich Experten ja uneinig, ob diese Tanz- nicht vielmehr eine Trauermusik ist; Bach schrieb sie nach dem Tod seiner ersten Frau, Maria Barbara. Bestenfalls ist es beides.
„Dieses Ballett wäre vielleicht selbst dann interessant, gäbe es Corona gerade nicht.“
Andris Plucis, Choreograf und Ballettdirektor am Landestheater Eisenach
Auch „Charleys Tante“und „Saturday Night Fever“vor 96 Zuschauern
Inzwischen, nach einem Monat Arbeit, steht der Abend jedenfalls, alles in allem. Denn der Vorteil der Corona-Lage war, dass man sehr intensiv choreografieren konnte, weil es keine Vorstellung gibt, für die man auch immer wieder trainieren müsste. Nach den Ferien bleiben zweieinhalb Wochen, um alles wieder hochzubringen. Das wird knapp. „Im Kopf haben es die Tänzer zwar schon, aber der Körper hat dann Urlaub gemacht“, so Plucis.
„Wir“gehört zu den konkreten Plänen der Wiedereröffnung des Theaters für September und Oktober. Platz ist dort dann aufgrund der Abstandsregeln einstweilen für 96 Zuschauer, inklusive zweitem Rang. „Wenn es sehr gut läuft, setzten wir mehr Vorstellungen an“, so Plucis. Das Junge Schauspiel will die Komödie „Charleys Tante“zur Premiere bringen. Zudem steht das Musical „Saturday Night Fever“auf dem Plan, Balletttänzer inklusive.