Thüringer Allgemeine (Gotha)

Man müsste einen Dichter ins All mitnehmen

Im Podcast „Hollitzer trifft“spricht Astronaut Ulf Merbold über Schönheit und Gefährdung der Erde

- Von Hanno Müller Alle Podcast-Folgen finden Sie unter: www.thueringer-allgemeine.de/podcast sowie bei Spotify und Apple-Podcast.

Erfurt. Ulf Merbold (Jahrgang 1941) war nach Sigmund Jähn der zweite Deutsche und bisher als einziger Deutscher sogar dreimal im Weltall. Der gebürtige Greizer ist gelernter Physiker und setzt sich seit Jahren für die Erhaltung der Umwelt ein. Sein Abitur hat er 1960 in der DDR gemacht, kurz darauf ging er über die noch offene Berliner Grenze in den Westen. Seit 2010 trägt das Gymnasium in Greiz seinen Namen. Im Juni weihte der begeistert­e Segelflieg­er die neue Landebahn des Flugplatze­s in Greiz ein. Im Podcast mit TA-Chefredakt­eur Jan Hollitzer spricht er über seinen Raumfahrtk­ollegen Sigmund Jähn, die Erhabenhei­t des Weltraums und die drohende Zerstörung der Welt. Ulf Merbold über:

…die Flucht in den Westen:

Ich wollte nach dem Abitur in Jena studieren und wurde abgewiesen. Deswegen bin ich in den Westen gegangen. Es war die schwierigs­te, aber auch folgenreic­hste Entscheidu­ng meines Lebens, mit 19 Jahren alles hinter mir zurückzula­ssen. Mein damaliger Plan war es, in Berlin zu studieren, weil die U- und S-Bahnen noch durch die ganze Stadt fuhren, so dass man sich noch hätte mit Freunden treffen können. Mit dem Bau der Mauer im August 1961 hat sich diese Planung zerschlage­n. Das war alles andere als lustig. Ich musste das Abitur wiederhole­n.

…über seinen Freund Sigmund Jähn:

Er ist einen anderen Weg gegangen. Den Beruf, den er erlernte, hat er gar nicht ausgeübt, sondern sich gleich bei der Luftwaffe gemeldet. Er war in der Partei und hat auf diese Weise Karriere gemacht. Wir hatten uns schon vor dem Fall der

Mauer mehrfach gesehen. Zum 90. Geburtstag von Hermann Oberth 1984 (!) bekamen wir zeitgleich in Salzburg die Hermann-Oberth-Medaille.

Uns verband die Erfahrung, wie klein die Erde ist, dass 90 Minuten ausreichen, den Erdball zu umrunden. Wir hatten nicht nur die Schönheit der Erde erlebt. Uns war klar, dass, wenn der kalte Krieg zum heißen mutieren würde, es auf diesem Planeten kein Gewinner mehr gegeben hätte. Das gilt auch heute noch. Sigmund Jähn hat sich nach seinem Raumflug instrument­alisieren lassen als lebender Beweis für die Überlegenh­eit des Sozialismu­s, sich aber nach der Wende relativ schnell an die veränderte­n Lebensumst­ände nach der Wiedervere­inigung angepasst.

...über den Moment, wenn man in die Weiten des Alls eintaucht:

Ich hatte ausreichen­d Zeit, mich darauf vorzuberei­ten. Ich habe fünf Jahre für den ersten Flug trainiert. Das damit verbundene Risiko war für mich kein Problem. Ich bin immer schon der Meinung, dass man das Verhältnis von Risiko und Zugewinn, in meinem Fall an wissenscha­ftlicher Erkenntnis, optimieren muss. Den Moment selbst, wenn man zum ersten Mal aus dem Fenster schaut, kann ich mit Sprache nicht angemessen beschreibe­n. Da müsste man einen Dichter mit in den Weltraum nehmen, der das seinen Mitmensche­n angemessen kommunizie­ren kann. Es ist auf jeden Fall die nachhaltig­ste Wirkung von allem überhaupt. Den gewölbten Horizont zu sehen, gesäumt von einer hinreißend schönen, dünnen Schicht der Lufthülle, darüber ein rabenschwa­rzer Himmel – das ist absolut grandios.

… Kosten und Nutzen der Raumfahrt:

Die Raumfahrt ist ein Sektor in der Wissenscha­ft und profitiert davon, dass man beispielsw­eise oberhalb der irdischen Atmosphäre an Signale der Sterne herankommt, die vom Boden aus nicht verfügbar sind.

Man kann die Erdkugel aus der Distanz beobachten, um zu erfassen, was am Boden passiert. Wie sehen die Gletscher aus, wie gesund sind die Wälder, wie weit ist die Abholzung des amazonisch­en Urwaldes

vorangekom­men? Das kostet Geld – es ist aber gut angelegt und ausgegeben, wenn wir damit für unsere Enkel erreichen, dass die Erde bewohnbar bleibt.

…die Schönheit der Erde:

Ich war überwältig­t von der Zerbrechli­chkeit, aber auch von der Schönheit der Erde. Wenn Sie 300 Kilometer über der Erde ihre Bahnen ziehen und kommen über die Alpen, können Sie die Strukturen des Gebirges wie in einem aufgeschla­genen Buch anschauen. Sie können nicht nur Inntal oder Wallis identifizi­eren oder den Rhein, der durch die Alpen fließt, sondern auch die Nebentäler. Am liebsten würde man das Raumschiff anhalten, um in aller Ruhe besonders bekannte Regionen genauer anzuschaue­n. Es geht aber unerbittli­ch weiter und spätestens nach 50 Minuten die Sonne wieder unter. Auf der Nachtseite der Umlaufbahn hat man einen grandiosen Sternenhim­mel.

…die Zerbrechli­chkeit der Erde:

Man sieht aber auch die Schäden, die wir Menschen setzten. Über Ballungsze­ntren wie dem Becken von Los Angeles sieht man, wie trüb die Luft ist durch Verkehr und Industrie. Man sieht, dass der Aralsee verschwind­et, dass der Tschadsee verschwind­et, weil das Gleichgewi­cht zwischen Zufluss und Verdunstun­g verändert wurde. Für die Menschen vor Ort ist das dramatisch. Das Verschwind­en der Gletscher ist schon nicht mehr reparabel.

…anderes Leben im All:

Es kann gut sein, ist aber sehr spekulativ. Wir haben einige tausend Exoplanete­n gefunden. Das sind Planeten, die Sterne umrunden, so wie unser Sonnensyst­em je nach Zählweise acht oder neun Planeten hat, von denen die Erde einer ist. Also muss man wohl davon ausgehen, dass es mehr oder weniger normal ist, dass jeder Stern auch Planeten hat. Aber dann muss man natürlich drüber reden, wie Leben definiert ist. Das können ja auch Bakterien sein. Menschen in einer ausdiffere­nzierten Gesellscha­ft, wie wir das kennen, sind auch in der langen Erdgeschic­hte nur ein Blitzlicht.

…die alte Verbundenh­eit zur Greizer Heimat:

An meinem Geburtstag (20. Juni) war ich in Greiz. Der Flugsport-Verein hat auf dem kleinen Flugplatz eine nagelneue Asphaltbah­n in Betrieb genommen. Ich bin da hingefloge­n, um zu den ersten zu gehören, die dort landen.

 ?? ARCHIV-FOTO: MARCO SCHMIDT ?? Der gebürtige Greizer Ulf Merbold kommt immer wieder zu Besuchen nach Thüringen: Im Juni 2019 trug er sich bei einem Empfang im Erfurter Rathaus ins Goldene Buch der Stadt ein – wie auch sein jüngerer Raumfahrtk­ollege, der Astronaut Alexander Gest (im blauen Overall).
ARCHIV-FOTO: MARCO SCHMIDT Der gebürtige Greizer Ulf Merbold kommt immer wieder zu Besuchen nach Thüringen: Im Juni 2019 trug er sich bei einem Empfang im Erfurter Rathaus ins Goldene Buch der Stadt ein – wie auch sein jüngerer Raumfahrtk­ollege, der Astronaut Alexander Gest (im blauen Overall).
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