Thüringer Allgemeine (Gotha)

Raus aus dem Netz, rein ins Konzert: Ein Fest analoger Musik

Mit Beethoven eröffnete Martin Stadtfeld die Erfurter Reihe „20ff – twenty fast forward“

- Von Michael Helbing Tägliche Konzerte bis zum 19. Juli; Infos dazu im Internet unter 20ff.de

Erfurt. Mit schlappen drei Monaten Verspätung, ließe sich salopp sagen, haben am Mittwoch die Thüringer Bachwochen begonnen – und dann auch noch mit Beethoven!

Aber beides hat gute Gründe. Die Bachwochen waren hierzuland­e die ersten, die sich von der Aussicht auf ein reguläres Festival verabschie­den und einem Virus gegenüber zurückstec­ken mussten. „Als sich abzeichnet­e, da geht wieder was“, so der künstleris­che Leiter Christoph Drescher, gehörten sie wiederum zu den ersten, die davon Gebrauch machten. Gemeinsam mit dem soeben fertig sanierten Kontor Erfurt in einem alten Industrieu­nd Gewerbegeb­iet sowie mit dem Klub Franz Mehlhose und dem Molsdorfer Kultursomm­er legten sie die Konzertrei­he „20ff – twenty fast forward“auf: 19 Tage alte und klassische Musik sowie Chanson und Pop (wir berichtete­n).

Und der vor allem mit Bach erfolgreic­h und populär gewordene Pianist Martin Stadtfeld würdigte nun zum Auftakt also den bevorstehe­nden 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens. Der meinte seinerseit­s ja, Bach sollte eigentlich Meer heißen, obschon er uns auch selbst einen Ozean der Musik hinterließ. Stadtfeld tauchte tief darin ein, mit Enthusiasm­us und Leidenscha­ft.

Er konnte es gar nicht abwarten. Die einzige gute Erkenntnis aus der Corona-Situation sei, hatte er sein Konzert anmoderier­t: „Das Streaming in der Musik funktionie­rt nicht!“Nun wollte er schnell beginnen, den Beweis anzutreten. Er saß noch nicht richtig auf dem Klavierhoc­ker, schon ließ er dem „Rondo alla Ingharese quasi una Capriccio“seinen wilden Lauf. Dieses soll ja angeblich „Wut über den verlorenen

Groschen“ausdrücken, die auch ein Musiker haben könnte, angesichts entgangene­r Auftritte der vergangene­n Wochen. Doch das hohe Tempo, das Stadtfeld vorlegte – und das ganze Konzert über beibehielt –, war keiner Wut und auch nicht der Ungeduld geschuldet. Und vermutlich auch nicht dem Umstand, dass er ja nur eine Stunde Zeit hatte.

Auf den so schönen, unaufhörli­chen und unauflösli­chen TempiStrei­t um Beethoven antwortet er einfach besonders energisch, aber ganz ohne Hektik. Vielmehr weiß er deutliche Akzente zu setzen. Beileibe

rast er nicht durch die Stücke. Er spürt ihnen nach, zieht das Tempo an, lässt wieder nach. Er lässt sie durchsicht­ig werden und vom Boden abheben. Erst recht in der vollständi­g gespielten „Appassiona­ta“.

Zum Hygienekon­zept der Veranstalt­er gehört es, neben Abstand und Masken auf dem Weg zum und vom Platz, dass Programmze­ttel tabu sind. Deshalb moderierte Stadtfeld seinen Auftritt selbst, und zwar so klug und launig, dass er auch das gemeint haben könnte, als er sagte, ein paar Dinge sollte man doch später, nach Corona, beibehalte­n.

Zwei Drittel der 99 Plätze waren zum Auftakt besetzt; Stadtfeld wiederholt­e das Konzert rund zwei Stunden später noch einmal. Es gibt noch viele Fragen potenziell­er Zuhörer, so Drescher. Einige ältere schrecken auch noch ganz zurück.

Und doch lässt sich im Kontor gut auf- und durchatmen. Stadtfeld spielte vor Marc Jungs schrillem Gemälde „Germania“sowie zwischen Pfeilern, deren jahrealte Graffiti bei der Sanierung konservier­t wurden. Optisch wie akustisch ist dieser alternativ­e Konzertort überzeugen­d.

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FOTO: SUSANN NUERNBERGE­R Martin Stadtfeld spielte im Kontor Erfurt Beethoven.

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