Tradition neu interpretiert
Neulich fragt mich meine beste Freundin Pia: „Gibt es bei dir eigentlich regelmäßig einen Sonntagsbraten?“
„Nein, in diesem Punkt versagt mein Traditionsbewusstsein kläglich. Aber bei der Hitze zurzeit ist das ja kein Problem, da hat man eh keinen Hunger – und schon gar keinen Appetit auf heftige Fleischbatzen!“, sag ich.
„Aber im Herbst oder Winter ist doch so eine Sonntagsroulade oder ein Sauerbraten, ein Gulasch, Bratente, Gänsekeule oder Rehrücken was Feines, findest du nicht? Da überkommt einen doch glatt die pure Fleischeslust“, sagt Pia.
„Also, ich kranke zwar leider nicht an Appetitlosigkeit. Aber wie kommst du ausgerechnet jetzt, in Zeiten von kalter Gurkensuppe, Götterspeise und Gazpacho – den drei goldenen G für heiße Sommertage, auf das Thema Fleischessen?“, sag ich.
„Weil ich neulich im Zusammenhang mit der Klima-Diskussion und unserem schrecklich hohen Fleischverzehr auf den antiquierten Begriff des Sonntagsbratens gestoßen bin“, sagt Pia.
„Und?“, sag ich.
„Na es hieß, wir sollten uns doch wieder auf den alten Brauch des Sonntagsbratens konzentrieren und statt täglich Schnitzel, Bratwurst, Frikadelle oder Königsberger Klopse doch besser bloß am Sonntag Fleisch essen“, sagt Pia.
„Klingt plausibel – eine völlige Neuinterpretation dieser Tradition, die ich noch aus meiner Kindheit kenne: Sonntags versammelte sich die Familie zu einem deftigen Fresschen“, sag ich.
„Tja, mittlerweile essen wir recht unkontrolliert Wurst und Fleisch, wann immer uns der Zahn tropft. Bist du dabei: künftig nur noch sonntags?“, sagt Pia.
„Wie gesagt, die Temperaturen bremsen meinen Futterdrang. Da würde ich doch lieber erstmal mit dem Sonntagssüppchen einsteigen wollen“, sag ich.