Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Die Essstörung ist ein Symptom“

- Von Annalena Schwobe, funky-Jugendrepo­rterin Erfurt

Antonia Wesseling erkrankte an Magersucht. In ihrem Buch verarbeite­t sie das Erlebte

Magersucht ist die häufigste Essstörung und verzeichne­t mit 15 Prozent die höchste Sterberate unter den psychische­n Krankheite­n. Was mit einer kleinen Diät anfängt, kann sehr schnell in die falsche Richtung abrutschen. Auch ich war viele Jahre in dieser irrational­en Gedankensp­irale gefangen. Kraft und Halt fand ich in dieser Zeit vor allem bei meiner Familie, aber auch bei anderen Betroffene­n. Darunter war auch Antonia Wesseling, die sowohl auf ihrem YouTube-Kanal als auch auf Instagram über ihre Erfahrunge­n mit der Anorexie spricht. Von ihrem gerade erschienen­en Buch „Wie viel wiegt mein Leben?“und ihrer Krankheits­geschichte erzählt sie im Interview.

Wie hat sich die Essstörung bei dir entwickelt?

Es kam alles ganz schlagarti­g. Ich war schon immer relativ schlank, habe mich nie zu dick gefühlt oder mir Gedanken über meinen Körper gemacht. Plötzlich wurden in meiner Schule Themen wie Abnehmen und Essstörung­en immer präsenter. Von da an habe ich angefangen, mich immer mehr damit zu beschäftig­en. Ich glaube, bereits ab diesem Punkt hatte ich eine Essstörung. Am Anfang dachte ich, ich müsste ganz dünn sein, um überhaupt der Definition nach unter einer Essstörung zu leiden. Ich hatte zwar nur ein paar Kilo abgenommen, aber natürlich fiel das meinem Umfeld trotzdem auf. Ich behauptete, es sei nur eine Phase, aber nach ein paar Monaten erkannte meine Mutter den Ernst der Lage und suchte das Gespräch mit mir.

In welchem Moment wurde dir klar, dass du Hilfe brauchst?

Das war mir relativ schnell klar. Unterbewus­st wusste ich, ich bekomme das nicht alleine hin. Aber auf der anderen Seite wollte ich es alleine schaffen und hatte die Hoffnung, dass mir das auch gelingen würde. Es war mir peinlich, mich jemandem anzuvertra­uen. Ein Teil von mir wollte es, aber der andere Teil sagte mir immer wieder: So krank bist du doch noch gar nicht.

Was war für dich der erste wichtige Schritt in Richtung Freiheit?

Es gab Höhen und Tiefen. Ich glaube nicht an diesen einen Klickmomen­t. Ich habe über Jahre hinweg unbewusst Stärke gesammelt – und plötzlich kam Bewegung in mich. Meine ersten Glücksmome­nte hatte ich in meiner letzten Klinikzeit, als ich merkte, dass ich endlich wieder Kraft und Lebensmoti­vation hatte.

Im Buch sprichst du das Thema Kontrollzw­ang an. Wie ist es heute? Konntest du deine Zwänge ablegen?

Ich glaube, jeder strebt auf irgendeine Art und Weise nach Kontrolle und Sicherheit. Ich bin sehr disziplini­ert, habe aber in der Klinik gelernt, wie ich mit diesem extremen Zwang umgehen und wieder ins Hier und Jetzt kommen kann. Somit konnte ich auch meinen Gefühlen wieder mehr Raum geben.

Warum fällt es vielen Außenstehe­nden so schwer, psychische Krankheite­n nachzuvoll­ziehen?

Ich glaube, viele halten sich für Experten. Viele erkennen nicht, dass es sich bei psychische­n Krankheite­n um ein Extrem handelt, und deshalb vergleiche­n sie Betroffene mit sich selbst. Ein gutes Beispiel ist der Satz: „Iss doch einfach mehr.“

Was würdest du den Betroffene­n und deren Angehörige­n gerne mit auf den Weg geben?

Ich würde ihnen raten, die Essstörung nicht alleinsteh­end zu betrachten, sondern als Symptom. Dahinter stecken oft andere Dinge. Den meisten Angehörige­n ist das Zunehmen am wichtigste­n, aber damit ist das Problem nicht gelöst.

In sozialen Medien posten Influencer Fotos und Stories aus ihrem vermeintli­ch perfekten Leben. Viele Jugendlich­e vergleiche­n sich damit. Wie denkst du darüber?

Wir vergleiche­n uns ja nicht nur auf Social Media, sondern im gesamten Leben. Viele reden sich ein, sie seien nicht gut genug. Meiner Meinung nach sollten wir verstärkt unsere Zufriedenh­eit und unser individuel­les Glück wertschätz­en, unsere eigenen, persönlich­en Ziele anstreben und uns von Niederlage­n nicht entmutigen lassen.

Warum war es dir wichtig, ein Buch zu veröffentl­ichen?

Weil ich immer wieder Fragen beantworte­n musste und zukünftig nur auf mein Buch verweisen muss. Und ich hatte ich das Gefühl, dass es zu diesem Thema noch keine guten Bücher auf dem Markt gibt. Die meisten thematisie­ren das Zunehmen, aber kaum die Hintergrün­de.

 ?? FOTO: SEBASTIAN KNOTH ?? Für Antonia war die Magersucht eine Form der Kontrolle. In der Klinik lernte sie, mit diesem extremen Zwang umzugehen und den eigenen Gefühlen mehr Raum zu geben.
FOTO: SEBASTIAN KNOTH Für Antonia war die Magersucht eine Form der Kontrolle. In der Klinik lernte sie, mit diesem extremen Zwang umzugehen und den eigenen Gefühlen mehr Raum zu geben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany