Thüringer Allgemeine (Gotha)

Das Versagen der Wirtschaft­sprüfer

Jahrelang winkten die Prüfer die Wirecard-Jahresabsc­hlüsse durch. Jetzt rollt auf EY eine Klagewelle zu

- Von Tobias Kisling

Berlin. Der 18. Juni war der Tag, an dem Ingo H. um seine Altersvors­orge gebracht wurde. 140.000 Euro hatte der 45-jährige Familienva­ter aus Brandenbur­g in Aktien des Zahlungsdi­enstleiste­rs Wirecard investiert. Ein langfristi­ges Investment sollte die Geldanlage darstellen, vom Wachstum des Zahlungsdi­enstleiste­rs war der selbststän­dige Unternehme­r überzeugt. „Wirecard passte einfach perfekt. Ich bin selbst technikaff­in, zugleich war es mir wichtig, dass das Geld in Deutschlan­d bleibt. Und ich wollte die Sicherheit, die der Dax generiert. Immerhin habe ich in die Regularien, die Schutzmech­anismen und die Berichte der Wirtschaft­sprüfer vertraut“, so der Brandenbur­ger.

Doch genau diese Regularien und Schutzmech­anismen haben versagt. Am 18. Juni verweigert­e die Wirtschaft­sprüfgesel­lschaft EY Wirecard das Testat für den Jahresabsc­hluss. Es folgte ein historisch­er Börsenabst­urz, der in der Insolvenz des Zahlungsdi­enstleiste­rs und am vergangene­n Freitag mit dem Ausscheide­n aus dem Deutschen Aktieninde­x (Dax) endete.

Neben den Aufsichtsb­ehörden geraten nun auch die Wirtschaft­sprüfer massiv unter Druck. Ihre Aufgabe ist es, die Jahreserge­bnisse der Unternehme­n auf deren Richtigkei­t zu prüfen. Bei Wirecard testierte die Wirtschaft­sprüfgesel­lschaft EY, früher Ernst&Young, seit 2009 die Jahresabsc­hlüsse. Auch im vergangene­n Jahr gab EY für den Wirecard-Jahresabsc­hluss 2018 grünes Licht. Zu diesem Zeitpunkt

hatte Wirecard laut Ermittlung­en der Münchner Staatsanwa­ltschaft schon seit mindestens drei Jahren Umsätze erfunden.

Auf EY rollen nun Klagewelle­n zu – auch weil Wirecards Insolvenzm­asse wohl nicht ausreichen wird, um die Schäden zu decken. „Es hat keinen Sinn, jemanden zu verklagen, der schon kaputt ist und bei dem nichts mehr zu holen ist“, sagt der Berliner Rechtsanwa­lt Wolfgang Schirp. In Kooperatio­n mit seinem Kollegen Marc Liebscher reicht Schirp stattdesse­n Sammelklag­en von geschädigt­en Investoren gegen die Abschlussp­rüfer von EY ein. Schon jetzt hätten sich 4000 Kläger gemeldet, das erste Dutzend Klagen sei bereits beim Landgerich­t Stuttgart eingereich­t.

Schauspiel­er sollen Bankmitarb­eiter gemimt haben

Die Klagen richten sich gegen den deutschen Ableger von EY, die Ernst Young GmbH Wirtschaft­sprüfungsg­esellschaf­t mit Sitz in Stuttgart. Schirp erhofft sich, Ansprüche in Höhe von über 500 Millionen Euro geltend machen zu können. Er setzt dabei auf die globale Größe von EY. Zwar ist der Haftungsan­spruch auf die deutsche EYTochter und nicht den Gesamtkonz­ern beschränkt. „Dass EY aber seine wichtige deutsche Tochterges­ellschaft insolvent gehen lässt, halte ich für undenkbar“, sagt Schirp. Ein solches Szenario, so der Rechtsanwa­lt, würde das Ende des Gesamtverb­undes von EY einläuten.

Um EY aber überhaupt belasten zu können, müssen die Anwälte dem Unternehme­n vorsätzlic­hes, zumindest aber leichtfert­iges und gewissenlo­ses Handeln nachweisen. EY selbst spricht von einem „umfassende­n Betrug“. Selbst mit erweiterte­n Prüfungsha­ndlungen sei es „unter Umständen nicht möglich“, einen „konspirati­ven Betrug“aufzudecke­n, so EY. Und die Wirecard-Spitze

schien sich ins Zeug gelegt zu haben, um den mutmaßlich­en Betrug zu vertuschen. Laut Recherchen des „Manager Magazins“gehe die EY-Spitze davon aus, dass der flüchtige Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek Schauspiel­er engagiert haben soll, die Bankmitarb­eiter spielten. Ganze Kulissen sollen demnach errichtet worden sein, um vorzutäusc­hen, dass es sich um echte Bankfilial­en handelte. EY wollte die Aussagen auf Anfrage unserer Redaktion nicht bestätigen. Allerdings habe man im Rahmen der Abschlussp­rüfung für 2019 entdeckt, dass gefälschte Saldenbest­ätigungen und weitere gefälschte Unterlagen vorgelegt worden seien.

Kann man bei solchen Umständen von Vorsatz sprechen? Anwalt

Schirp findet das schon. Er zielt auf die vorherigen Geschäftsb­erichte ab, bei denen „die Prüfer noch nicht einmal eine Saldenbest­ätigung von der Bank angeforder­t haben“, wie Schirp sagt. Bevor Wirecard seine fehlenden 1,9 Milliarden Euro auf den Philippine­n geparkt haben wollte, sollte das Geld in Singapur liegen. Singapur ist für sein strenges Bankgeheim­nis bekannt. EY musste zwar Treuhänder prüfen, ob es aber zudem von den Banken Saldenbest­ätigungen erhielt, ist offen.

Ob geschädigt­e Anleger sich nun zeitnah einer Klage anschließe­n, sollten sie sich vorher genau überlegen, rät Verbrauche­rschützer Ronny Jahn, Jurist beim Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and (vzbv). Eine Verjährung des Falls drohe erst

Ende 2023. Wer jetzt im „Windhundve­rfahren“darauf setze, als Erstes eine Klage einzureich­en, um auch als Erstes Ansprüche durchzuset­zen, könnte enttäuscht werden, warnt Jahn. „Sollte EY beispielsw­eise Insolvenz anmelden müssen, dann nützt auch ein Windhundve­rfahren nichts.“Wo eine Klage neben der Erfolgspro­vision Geld koste, müsse man sehr genau abwägen. Ansonsten drohe die Gefahr, dass man „gutes Geld schlechtem hinterherw­irft“, so Jahn.

Ingo H. hingegen geht das Risiko ein, er hat sich einer selbst finanziert­en Sammelklag­e angeschlos­sen. „Wäre es um einen kleinen Betrag gegangen, hätte ich es vielleicht unter Lehrgeld verbuchen können“, sagt er. „Aber bei der Summe als entscheide­ndem Baustein meiner Altersvors­orge möchte ich nicht kampflos aufgeben.“

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FOTO: DPA Nach dem ehemaligen Wirecard-Manager Jan Marsalek wird internatio­nal gefahndet. Er gilt als Schlüsself­igur in dem Milliarden-Skandal.
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FOTO: IMAGO / HETTRICH Die deutsche EY-Gruppe unter Druck. gerät

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